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12/08/2020 13:12

Stipendienprogramm Postdoktoranden Presse-Information „Grenzen der Optimierung“

Marion Hartmann Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Daimler und Benz Stiftung

    Brauchen wir ein „Recht“ auf Rechtsverstoß?
    Wenn Algorithmen regelwidriges Verhalten unmöglich machen

    Jeder weiß, dass man ein Fahrzeug nicht in alkoholisiertem Zustand steuern darf. Aber Menschen halten sich nicht immer an geltendes Recht. Im Verkehr, im Internet oder in anderen Alltagssituationen setzen sie sich bewusst darüber hinweg. Was aber, wenn neue Technologien – autonome Fahrzeuge, künstliche Intelligenz oder spezielle Datenfilter – solche Verstöße unmöglich machen? Prof. Dr. Timo Rademacher, Spezialist für Öffentliches Recht und das Recht der neuen Technologien von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover, untersucht in einem von der Daimler und Benz Stiftung geförderten Forschungsprojekt, ob und wo technologische Optimierung an verfassungsrechtliche Grenzen stößt.

    Bislang entscheiden Menschen in der Regel selbstbestimmt, ob sie sich an Gesetze und Vorschriften halten. Denn staatliche Kontrollen erfolgen überwiegend stichprobenartig, sodass es mehr oder weniger dem Zufall überlassen bleibt, bei einer ordnungs- oder rechtswidrigen Tat ertappt zu werden. Mithilfe moderner Technologien und künstlich intelligenter Systeme lässt sich dies jedoch grundlegend ändern: In immer mehr Lebensbereichen könnte die Befolgung des Rechts automatisiert werden. „Sogenannte ‚Impossibility Structures‘ machen einen Rechtsbruch physisch unmöglich“, erklärt Rademacher. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem vollständigen Vollzug bzw. dem Vollvollzug des Rechts. „Aber dürfen wir es unmöglich machen, rechtswidrig zu handeln?“

    Impossibility Structures können in unterschiedlichsten Zusammenhängen vorausschauend eingreifen: Upload-Filter im Internet blockieren kinderpornografische Inhalte, intelligente Algorithmen erkennen und unterbinden den Versuch von Geldwäsche. Ein autonomes Fahrzeug verhindert das Überfahren einer roten Ampel, ein anderes aktiviert die automatische Wegfahrsperre, wenn der Fahrer betrunken ist. In vielen Situationen dürfte der regulierende Einsatz moderner Technologien Zustimmung in der Bevölkerung finden, in anderen jedoch auf Skepsis oder gar Ablehnung stoßen.

    Bei der Umsetzung spielt die gegenwärtige Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz eine entscheidende Rolle. Wie häufig treten beispielsweise falsch positive oder falsch negative Ergebnisse auf? Anders gesagt: Können digitale Systeme den oft schmalen Grat zwischen Recht und Unrecht gut genug erkennen? Und wo schränken sie die Freiheiten des Individuums in gravierender Weise ein? Wenn Datenfilter versehentlich auch erlaubte Webinhalte blockieren, wird dies gesellschaftlich vielleicht toleriert, nicht aber wenn ein Schwerverletzter ins Krankenhaus gebracht werden muss und das Fahrzeug an der roten Ampel trotz freier Straße die Weiterfahrt verweigert.

    Selbst wenn derartige Probleme auf technischer Ebene bald gelöst sein könnten – das Recht würde allein durch den Einsatz innovativer Technologien vollzogen. Man käme erst gar nicht in die Verlegenheit, sich Gedanken über sein Tun und Lassen machen zu müssen: Der reflexive Prozess des mündigen Bürgers entfällt. All dies nimmt Rademachers Forschungsprojekt in den Fokus. Sein Vor-haben wird von der Daimler und Benz Stiftung im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden über zwei Jahre mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert. „Das heutige Versprechen eines Vollvollzugs war zu der Zeit, als die Gesetze auf den Weg gebracht wurden, nicht denkbar“, so der Jurist. Er stellt daher zur Diskussion, ob Vollzugsdefiziten ein rechtlicher Eigenwert zugeschrieben oder ob – plakativ ausgedrückt – ein „Recht“ auf Rechtsverstoß bzw. die Möglichkeit eines Rechtsverstoßes eingeräumt werden müsse.

    Tatsächlich seien laut Rademacher zahlreiche Gesetze und Regelungen strenger formuliert, als sie es für ein funktionierendes Gemeinwesen sein müssten. Falls sie nicht mit der Absicht ihres Vollvollzugs angelegt worden seien, müsse der Einsatz von Impossibility Structures kritisch hinterfragt werden: Welcher Rechtsbereich wäre so wichtig, dass der Vollvollzug den richtigen Weg darstellt? Welches Gut müsste in welchem sozialen Kontext geschützt werden und wie viele Fehler sind dabei erlaubt?

    Rademacher: „Wenn der Gesetzgeber die technische Aufrüstung und damit einen Vollvollzug plant, muss er darlegen, weshalb er dem Bürger die Selbstbestimmung nehmen möchte.“ Eine Option sei es auch, bestimmte Regelungen zunächst zu befristen und eine Neubewertung vorzunehmen, falls gesellschaftliche oder technologische Veränderungen zu erwarten sind. Als Beispiel nennt er persönliche Einschränkungen während der COVID-19-Pandemie, die nach ihrem Abklingen wo-möglich keine Rolle mehr spielten. „Unser Ziel ist“, resümiert der Rechtswissenschaftler, „sowohl beim Gesetzgeber als auch beim Bürger frühzeitig eine Sensibilisierung für rechtsdurchsetzende Technologien zu schaffen.“


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    Dürfen Roboter und andere Technologien mit künstlicher Intelligenz das Recht in die eigene Hand nehmen? Prof. Dr. Timo Rademacher untersucht, ob und inwieweit regelwidriges Verhalten grundsätzlich unmöglich gemacht werden darf.
    Dürfen Roboter und andere Technologien mit künstlicher Intelligenz das Recht in die eigene Hand nehm ...
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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Economics / business administration, Information technology, Law, Philosophy / ethics, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Transfer of Science or Research
    German


     

    Dürfen Roboter und andere Technologien mit künstlicher Intelligenz das Recht in die eigene Hand nehmen? Prof. Dr. Timo Rademacher untersucht, ob und inwieweit regelwidriges Verhalten grundsätzlich unmöglich gemacht werden darf.


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