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12/10/2020 11:00

Myasthenia gravis-Patientinnen/-Patienten sollten nicht aus Angst vor COVID-19 eine laufende Immuntherapie abbrechen

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Aktuell publizierte Registerdaten [1] zeigen, dass Myasthenia gravis-Patientinnen/-Patienten bei einer Infektion mit SARS-CoV 2 eine erhöhte Sterblichkeitsrate haben. Diese vorläufigen Ergebnisse könnten aber einem Reporting-Bias geschuldet sein, denn oft werden vor allem die Fälle in Register eingepflegt, die nicht problemlos verlaufen. Keinesfalls sollten die Betroffenen aus Sorge vor schweren Verläufen eine effektive Immuntherapie abbrechen. Es gibt derzeit keine ausreichende Rationale, dass eine Immuntherapie per se zu einer höheren COVID-19-Sterblichkeit (oder auch Empfänglichkeit) führt, das Absetzen hingegen kann die Myasthenie verschlechtern und zu schweren Komplikationen führen.

    Die Myasthenia gravis ist eine entzündliche neurologische Autoimmunerkrankung. Antikörper blockieren die Übertragung von Reizen an der sogenannten neuromuskulären Endplatte, der Schnittstelle zwischen Nerv und Muskel. Die Reize, die über die Nerven an den Muskel herangetragen werden, werden dadurch von den Muskeln dann nicht oder nur schwach wahrgenommen. Es kommt zur belastungsabhängigen Muskelschwäche, die sich typischerweise im Laufe des Tages verstärkt. Bei über der Hälfte der Patientinnen und Patienten macht sich die Muskelschwäche zunächst an den Augen bemerkbar, Lider hängen herunter (Ptose) und/oder sie sehen Doppelbilder (Diplopie). Auch Sprechprobleme und Schluckstörungen sind häufig. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu generalisierten Lähmungserscheinungen, die, wenn die Krankheit unbehandelt bleibt, auch zu Muskelschwund führen können. Man geht davon aus, dass 15 von 100.000 Menschen in Deutschland von dieser Erkrankung betroffen sind (Prävalenz).

    Die Patientinnen und Patienten werden mit sehr gutem Erfolg medikamentös behandelt. Eine wesentliche Therapiesäule stellt die Immuntherapie dar, sie unterdrückt die Bildung der schädigenden Antikörper, ist aber nicht nebenwirkungsfrei und muss darüber hinaus dauerhaft eingenommen werden. Angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie stellte sich die Frage, wie hoch das COVID-19-Risiko bei Myasthenia gravis-Patientinnen und -Patienten grundsätzlich ist und welchen Einfluss die Therapie auf den Ausgang der Infektion hat. Um diese Frage zu beantworten, initiierte eine internationale Arbeitsgruppe Anfang April ein Register (CARE-MG Register) und wertete die Krankheitsverläufe von SARS-CoV-2-positiven Myasthenia gravis-Patientinnen und -Patienten aus. Eine erste Zwischenauswertung der Daten bis zum 5. Oktober 2020 wurde aktuell publiziert [1]. 91 Patienten waren bis dahin im Register erfasst und es zeigte sich, dass es bei 36 Patienten (= 40%) mit COVID-19 zu einer Verschlechterung der Myasthenia gravis oder sogar zu einer myasthenen Krise kam, die intensiviert behandelt werden musste. Auffällig war auch das schlechte Outcome von Patientinnen und Patienten mit Myasthenia gravis, die an COVID-19 erkrankt waren: 24% waren verstorben und lediglich 43% vollständig genesen.

    „Die COVID-19-Sterblichkeitsrate ist bei Myasthenia gravis-Patienten also deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung“, erklärt Professor Dr. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie an der Westfälischen Universität Münster. „Das ist einerseits besorgniserregend, allerdings war die Zahl der ausgewerteten Patienten klein und die hohe Sterblichkeit könnte auch einem Reporting-Bias geschuldet sein, denn oft werden ja vor allem die Fälle in Register eingepflegt, die nicht problemlos verlaufen. Umso wichtiger ist es, die Datenbasis zu vergrößern und die Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen, alle Patientinnen und Patienten in das Register einzugeben.“

    Dass fast die Hälfte der Betroffenen vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Infektion eine Verschlechterung der Autoimmunerkrankung erlitten, überraschte den Experten hingegen weniger. „Es ist bekannt, dass verschiedene Infektionskrankheiten die Myasthenia gravis verstärken, ebenso wie verschiedene Medikamente, die bei schweren COVID-19-Verläufen zum Einsatz kommen, wie z.B. Hydroxychloroquin oder Azithromycin.“ Das ist einer der Gründe, warum Prof. Wiendl es nach jetziger Datenlage nicht für sinnvoll erachtet, die Immuntherapie bei den Patienten im Rahmen von SARS-CoV-2-Infektion abzusetzen. „Die Viruserkrankung kann den Verlauf der Myasthenia gravis aggravieren, insbesondere natürlich, weil respiratorische Probleme auch mit neuromuskulärer Schwäche vergesellschaftet sein können. Die Immunsuppression abzubrechen, hieße allerdings hingegen, ein stabiles Schutzschild gegen die Autoimmunerkrankung aufzugeben und schwere Rückfälle in Kauf zu nehmen.“

    Darüber hinaus sei die Vorstellung, dass bei Unterbrechung der Immunsuppression der Körper widerstandsfähiger gegen SARS-CoV-2 würde und besser mit einer schweren COVID-19-Erkrankung umgehen könne, so auch nicht immer richtig. Bei größeren Kollektiven von immunsupprimierten MS-Patienten wurde beispielsweise kein generell erhöhtes Risiko für schwere COVID-19-Verläufe beobachtet. Manche Immuntherapien mildern schwere Verläufe sogar ab, teilweise wegen ihrer vermutet oder belegten antiviralen Wirkungen.

    Wie Prof. Peter Berlit, DGN-Generalsekretär ausführt, ist ein Absetzen auch im Hinblick auf die COVID-19-Infektion nicht unbedingt ratsam. „Wir wissen, dass es bei der SARS-CoV2-Infektion zu einer Aktivierung des Immunsystems kommt, mit oft massiven Entzündungsreaktionen. Das Immunsystem ist also überaktiviert und richtet sich gegen den eigenen Körper. Es gibt die Hypothese, dass eine Immunsuppression womöglich vor extrem schweren Verläufen schützen könnte, aber letztlich fehlen dazu valide Daten. In jedem Fall sollten Myasthenia gravis-Patientinnen und -Patienten die immunsuppressive Therapie nicht aus Angst vor schweren COVID-19-Verläufen abbrechen, sondern stattdessen alles daran setzen, sich vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2- zu schützen.“

    Literatur
    [1] Srikanth Muppidi, Jeffrey T Guptill, Saiju Jacob, Yingkai Li, Maria E Farrugia, Amanda C Guidon, Jinny O Tavee, Henry Kaminski, James F Howard Jr, Gary Cutter, Heinz Wiendl, Matthew B Maas, Isabel Illa, Renato Mantegazza, Hiroyuki Murai, Kimiaki Utsugisawa, Richard J Nowak, and the CARE-MG Study Group. COVID-19-associated risks and effects in myasthenia gravis (CARE-MG). Published:December, 2020. DOI: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30413-0

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Past-Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Original publication:

    DOI: https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30413-0


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine
    transregional, national
    Scientific Publications, Transfer of Science or Research
    German


     

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