Die März-Unstatistik beschäftigt sich mit Wirksamkeit und Sicherheit des AstraZeneca-Impfstoffs. Sie ordnet die aktuelle Wahrscheinlichkeit einer Hirnvenenthrombose ein und legt dar, warum es sich anbietet, den Impfstoff zunächst vorrangig für Über-60-Jährige zu nutzen.
Der Impfstoff von AstraZeneca und der Universität Oxford steht für die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Lockdowns. Er lässt sich in einem normalen Kühlschrank lagern, ist preiswert und hat Großbritanniens Impfkampagne beschleunigt. Doch Mitte März setzte Gesundheitsminister Jens Spahn Impfungen mit AstraZeneca auf Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts vorübergehend aus. Seit der erneuten Zulassung erscheinen zahlreiche Patienten nicht zu den eigentlich knappen Impfterminen. Und nun wird über den Stopp der Impfung bei jüngeren Menschen diskutiert. Diese Unstatistik erklärt, was die Zahlen über Wirksamkeit und Sicherheit bedeuten, was wir noch nicht wissen, und wie man sich selbst ein Bild machen kann.
Wirksamkeit: Was bedeutet 79 Prozent?
Die Unstatistik des Monats November setzte sich bereits mit der Frage auseinander, wie Angaben zur „Wirksamkeit“ von Impfstoffen richtig zu verstehen sind. Wir haben eine Flut von Nachfragen erhalten und werden hier anhand der neuesten Studiendaten zur Impfung von AstraZeneca noch einmal vertieft auf diesen schwierigen Begriff eingehen.
Am 22. März hat AstraZeneca in einer Pressemitteilung über die vorläufigen Ergebnisse einer neuen Studie in den USA, Chile und Peru mit 32.449 Personen berichtet. Demnach ist die Wirksamkeit des Impfstoffs 79 Prozent für symptomatische Covid-19 Erkrankung. Das bedeutet, dass auf je 100 Erkrankte unter den Nicht-Geimpften lediglich 21 Erkrankte unter den Geimpften kamen. Als Erkrankte gelten in dieser Studie Personen, welche infiziert sind (positiver COVID-19 Test) und mindestens ein typisches Symptom haben, beispielsweise mindestens 37,8 °C Fieber.
Die berichtete Wirksamkeit verändert sich auch im Laufe der Studien. Wenige Tage nach der Pressemitteilung vom 22. März berichtete etwa AstraZeneca, dass sich mit Berücksichtigung der letzten Daten eine Wirksamkeit von 76 statt 79 Prozent ergibt.
In diesen Pressemitteilungen werden jedoch nicht die absoluten Zahlen angegeben, die man braucht, um die Berechnung der Wirksamkeit nachvollziehen zu können. Dazu nehmen wir die im Januar publizierte AstraZeneca-Studie aus Brasilien, Großbritannien und Südafrika, welche die absoluten Zahlen berichtet: Unter den 5.829 Nicht-Geimpften gab es 101 Erkrankte und unter den 5.807 Geimpften waren es lediglich 30. Das heißt, dass sich der Anteil der Erkrankten von 101/5.829 auf 30/5.807 verringerte, also um rund 70 Prozent. Diese Wirksamkeit wurde bis zu 5 Monate nach der ersten Impfdosis und bis zu 3 Monate nach der zweiten Impfdosis bestimmt – im Mittel also deutlich kürzer. Am einfachsten kann man die Wirksamkeit berechnen, indem man einen gemeinsamen Nenner nimmt, wie etwa 1.000 Personen. Das ergibt dann bei Nicht-Geimpften rund 17 Erkrankte und bei Geimpften 5 Erkrankte unter je 1.000 Personen. Die Wirksamkeit der Impfung berechnet sich dann als (17 – 5)/17, was einen Wert von etwas über 70 Prozent ergibt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass man nicht sagen kann, die Wirksamkeit eines Impfstoffes ist genau 70 oder 79 Prozent. Sie variiert mit dem Land, der Variante des Corona-Virus, dem Alter der Personen und anderen Faktoren. In dieser Studie waren fast neun von zehn Teilnehmern höchstens 55 Jahre alt; es handelt sich also um eine erheblich jüngere Population als die Gesamtbevölkerung.
Was Wirksamkeit nicht bedeutet
Eine Wirksamkeit von 70 Prozent bedeutet aber nicht, dass die Impfung 70 Prozent der Geimpften vor einer Erkrankung geschützt hat oder schützen wird. Diese Fehlinterpretation gibt es häufig. Wirksamkeit ist eine relative Risikoreduktion, also etwa von 17 auf 5 Erkrankte pro 1.000 Personen. Absolut gesehen sind jedoch nur zwölf von je 1.000 Geimpften aufgrund der Impfung nicht erkrankt – die absolute Risikoreduktion in der Studie war also 1,2 Prozentpunkte, von 1,7 Prozent auf 0,5 Prozent.
Nun könnte man einwenden, dass irgendwann alle Menschen an COVID-19 erkranken und sich dann die 70 Prozent auf alle beziehen werden. Um zu verstehen, dass dem nicht so ist, betrachten wir einmal ein Gedankenexperiment: 1.000 Nicht-Geimpfte, die keine Anzeichen einer durchgemachten oder bestehenden Corona-Infektion aufweisen, werden mit dem SARS-CoV-2-Virus in einen geschlossenen Raum gesperrt und Monate festgehalten, so dass sich alle infizieren.
Studien zeigen aber, dass nur 2/3 bis 3/4 der Infizierten auch erkranken, d.h. mindestens ein Symptom entwickeln. Damit kann man erwarten, dass unter den Nicht-Geimpften bis zu 750 Menschen erkranken werden. Unter 1.000 vergleichbaren Geimpften, die ebenfalls Monate mit dem Virus in einem geschlossenen Raum verbringen, reduziert sich die Zahl der Erkrankten von 750 auf 225 (bei einer Wirksamkeit von 70 Prozent).
Faktisch vor einer Erkrankung geschützt hat die Impfung dann 525 Menschen. Würde die Impfung auf Lebenszeit immunisieren, wären demnach maximal 52,5 Prozent aller Geimpften kausal durch die Impfung vor einer Erkrankung geschützt, denn die anderen wären selbst unter extremsten Bedingungen nicht erkrankt bzw. sind es dennoch. Die absolute Risikoreduktion würde selbst in diesem Extrembeispiel 52,5 Prozentpunkte betragen und nicht mehr. Kurz gesagt, die relative Reduktion (die Wirksamkeit) ist nicht das gleiche wie die absolute Reduktion — selbst wenn alle Menschen infiziert würden.
Wenn die Impfung dagegen weniger lange immunisiert, verringert sich ihre Schutzwirkung. Nimmt man beispielsweise an, dass die impfbedingte Immunität ein Jahr lang anhält und sich innerhalb dieses Jahres 12 Prozent der Menschen infizieren, dann erkranken ohne Impfung davon bis zu 75 Prozent (also 9 Prozent der Nicht-Geimpften) und von diesen erwarteten Erkrankungen werden bei den Geimpften 70 Prozent durch die Impfung verhindert. Durch die Impfung vor Erkrankung geschützt sind demnach 6,4 Prozent der Geimpften (die absolute Risikoreduktion).
Wirksamkeit in kontrollierten Studien ist nicht immer gleich Wirksamkeit in der realen Welt
Dennoch könnte man argumentieren, 95 Prozent Wirksamkeit bei BioNTech oder Moderna schützen vor einem Krankenhausaufenthalt besser als 70 oder 79 Prozent bei AstraZeneca. Dies wäre jedoch ein voreiliger Schluss, aus zwei Gründen. Zum ersten beziehen sich diese Zahlen auf Erkrankungen (definiert als positiver Test und mindestens ein Symptom; die Definitionen variieren allerdings zwischen den Herstellern), nicht auf die wichtigen schweren Erkrankungen oder Krankenhausaufenthalte. Für letztere werden sowohl für AstraZeneca als auch für Moderna eine Wirksamkeit von 100 Prozent berichtet, doch die Fallzahlen waren alle sehr niedrig. Zum anderen unterscheidet man im Englischen zwischen Efficacy (Wirksamkeit) und Effectiveness (Wirksamkeit unter realen Bedingungen). Letztere hängt von Faktoren ab, die in einer klinischen Studie nicht alle beachtet werden können.
Zur Wirksamkeit von AstraZeneca unter realen Bedingungen liegt nun eine erste Auswertung aus Schottland vor. Dabei ist es längst nicht mehr so leicht möglich, vergleichbare Bedingungen für Versuchs- und Kontrollgruppe zu schaffen: So sind unter den Geimpften der Studie nur knapp 35 Prozent jünger als 64 Jahre, unter den Nicht-Geimpften hingegen über 91 Prozent. Entsprechend anspruchsvoll sind die statistischen Verfahren, um solche Unterschiede herauszurechnen. Nach diesen Berechnungen konnte rund einen Monat nach Gabe der ersten Impfdosis der BioNTech-Impfstoff 85 Prozent und der AstraZeneca-Impfstoff 94 Prozent der Krankenhaus-Einweisungen verhindern. Bei kürzerer oder längerer Beobachtungsdauer war der Effekt deutlich geringer, wobei der AstraZeneca-Impfstoff kurz nach der Impfung durchgängig eine höhere Effectiveness zeigte als derjenige von BioNTech – allerdings gibt es noch keine Daten für einen Zeitraum von mehr als einem Monat. Das verdeutlicht den großen Einfluss, den die Zeit auf das Ergebnis besitzt. Es zeigt auch, dass man von der Wirksamkeit in der Reduktion von Erkrankungen in den Zulassungsstudien nicht direkt auf die Wirksamkeit in der Reduktion von Krankenhaus-Einweisungen in der realen Welt schließen kann. In der Studie in Schottland zeigt sich der AstraZeneca Impfstoff bisher mindestens so effektiv wie jener von BioNTech.
Sicherheit der AstraZeneca-Impfung
Das Paul-Ehrlich-Institut meldete am 16. März, dass es im zeitlichen Zusammenhang mit AstraZeneca-Impfungen in Deutschland zu sieben schweren Fällen von Hirnvenenthrombosen kam (sechs davon Frauen). Bei 1,6 Millionen Impfungen wäre aber nur etwa ein Fall zu erwarten gewesen. Darauf wurde in Deutschland der Impfstoff vorübergehend nicht mehr verwendet. Am 18. März bestätigte die EMA ihre Einschätzung, dass der Nutzen der Impfung die Nebenwirkungen überwiegt, es keinen Zusammenhang zwischen dem Insgesamt-Risiko von Blutpfropfen gibt, aber es einen Zusammenhang mit sehr seltenen Fällen wie Hirnvenenthrombosen geben könnte. Die EMA berichtete von 25 solchen Fällen in 20 Millionen Europäern. Das würde einer Wahrscheinlichkeit von einem schweren Fall in 800.000 Menschen entsprechen, oder einem in 229.000 im Fall der deutschen Zahlen.
Doch am 30. März meldete das Paul-Ehrlich-Institut insgesamt 31 Fälle von Hirnvenenthrombose (29 davon Frauen im Alter von 20 bis 63 Jahren) unter insgesamt 2,7 Millionen Personen, die mit AstraZeneca geimpft wurden. In Deutschland hatte man bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend jüngere Menschen mit AstraZeneca geimpft, in Großbritannien hingegen auch viele ältere. Dort wurden lediglich 5 Fälle von Hirnvenenthrombosen unter 11 Millionen Geimpften berichtet. Das legt den Verdacht nahe, dass diese seltene Komplikation vor allem jüngere Frauen trifft. Daher kann es sinnvoll sein, bis zum Vorliegen belastbarerer Erkenntnisse die bisherige Strategie, nur jüngere Menschen mit AstraZeneca zu impfen, zu beenden und alle Gruppen außer jüngere Frauen damit zu impfen. Momentan gibt es noch viele Über-60-Jährige, die nicht geimpft sind, und es bietet sich an, AstraZeneca vorrangig für diese Gruppe zu nutzen.
Das Risiko dieser seltenen Hirnvenenthrombosen kann man zudem am besten im Kontext einordnen. Setzt man die Impfung aus, können wegen der Knappheit der Impfstoffe anderer Hersteller deutlich weniger Menschen geimpft werden, was zu weitaus mehr schweren Erkrankungen durch COVID-19 und Todesfällen als die seltenen Hirnvenenthrombosen führt. Man kann sich auch vergegenwärtigen, dass wir anderswo schwere Risiken in Kauf nehmen, ohne viel darüber nachzudenken. Im Beipackzettel von Aspirin findet man etwa, dass Hirnblutungen und akutes Nierenversagen in weniger als einer von je 10.000 Personen auftritt, die Aspirin einnehmen. Kein Vergleich ist perfekt, aber Vergleiche helfen, die Risiken in eine Perspektive zu setzen.
Bis heute erreicht uns, das Unstatistik-Team, eine Flut von Anfragen zur Impfung. Viele bedanken sich für die Aufklärungsarbeit, andere lassen mit einem verärgerten Unterton anklingen, dass Aufklärung Munition für Impfkritiker liefern würde. Wir stellen deshalb klar: Impfung ist die große Hoffnung wieder zu einem normalen Leben zurückzukehren. Zahlen sind immer unsicher. Doch mit einem Rest von Ungewissheit leben zu können, statt sich eine Illusion der Gewissheit oder Verschwörungstheorie zu konstruieren, ist das Lebensblut einer informierten Gesellschaft.
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Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.
Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
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Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
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