Schnelle Reaktionen auf zukünftige Ereignisse können überlebenswichtig sein. Eine Boxerin muss beispielsweise bereit sein, eine Attacke vorauszusehen und innerhalb von Sekundenbruchteilen zu blocken. Schnelle und präzise Reaktionen basieren auf der Einschätzung, ob und wann ein Ereignis eintritt. Wissenschaftler des Max-Planck-Institutes für empirische Ästhetik (MPIEA) und der New York University (NYU) haben nun die kognitiven Berechnungen identifiziert, die diesem komplexen Vorhersageverhalten zugrunde liegen.
Woher weiß das Gehirn, ob und wann es aufmerksam sein muss? Mit jedem zukünftigen Ereignis gehen zwei Unsicherheitsfaktoren einher: ob es überhaupt innerhalb einer Zeitspanne eintreten wird und, wenn ja, wann es voraussichtlich geschehen wird. Bislang wurde in der neurowissenschaftlichen Forschung vermutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ob ein Ereignis eintritt, zu einer stabilen Erwartungshaltung führt. Diese Vermutung wurde bislang jedoch nicht empirisch belegt. Weiterhin ist unbekannt, wie das menschliche Gehirn die Wahrscheinlichkeiten, ob und wann ein Ereignis eintritt, kombiniert.
Ein internationales Team aus Forschern des MPIEA und der NYU untersuchte mit Hilfe eines einfachen, aber eleganten Experiments, wie diese beiden Unsicherheitsfaktoren Erwartungen beeinflussen. Sie variierten systematisch die Wahrscheinlichkeiten, ob und wann sensorische Ereignisse eintreten, und analysierten das Reaktionsverhalten der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer.
Dabei kamen sie zu zwei überraschenden Ergebnissen: Die Wahrscheinlichkeit, ob ein Ereignis eintritt, versetzt das menschliche Gehirn in einen äußerst dynamischen Zustand der Aufmerksamkeit. Überdies berechnet das Gehirn die Wahrscheinlichkeiten, ob und wann ein Ereignis eintritt, unabhängig voneinander. Die Ergebnisse der Studie wurden unlängst in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht.
„Wir untersuchen, wie Menschen Wahrscheinlichkeiten im Alltag berechnen, zum Beispiel beim Autofahren“, erklärt Matthias Grabenhorst vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. „Wer auf einen Bahnübergang zufährt, dessen Schranken sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kürze schließen werden, erhöht die Bereitschaft zu bremsen. Dieses Verhalten ist intuitiv und bekannt.“
Georgios Michalareas, ebenfalls MPIEA, führt weiter aus: „Wir haben herausgefunden, dass die Bereitschaft zu bremsen mit der Zeit dramatisch zunimmt – obwohl sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Schranken schließen, objektiv nicht ändert. Diese gleichbleibende Wahrscheinlichkeit ist für das Gehirn also dynamisch.“ Interessanterweise ist dieser dynamische Effekt unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, wann ein Ereignis geschieht. Das Gehirn weiß durch die separate Berechnung zweier Wahrscheinlichkeiten, wann es aufmerksam sein muss und steuert so die Reaktionsbereitschaft.
Mit der Identifikation dieser kognitiven Prozesse konnte das Forscherteam wesentlich zum Verständnis darüber beitragen, wie das menschliche Gehirn zukünftige Ereignisse vorhersagt und die Interaktion mit der Umwelt entsprechend anpasst.
Dr. med. Matthias Grabenhorst
Tel.: +49 69 8300479-340
matthias.grabenhorst@ae.mpg.de
Dr. Georgios Michalareas
Tel.: +49 69 8300479-325
g.m@ae.mpg.de
Matthias Grabenhorst, Laurence T. Maloney, David Poeppel und Georgios Michalareas (2021): Two sources of uncertainty independently modulate temporal expectancy. Proceedings of the National Academy of Sciences 118(16), e2019342118. doi:10.1073/pnas.2019342118
Schnelle und präzise Reaktionen basieren auf der Einschätzung, ob und wann ein Ereignis eintritt.
Bild: MPI für empirische Ästhetik
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Psychology
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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