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03/22/2004 13:23

Authentisch sind die Evangelien

Michael Kroemer Pressestelle
Universität Wuppertal

    Der Bibelwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Söding äußert sich nach der Premiere des Gibson-Films "The Passion of the Christ" zur Frage, ob die historischen Ereignisse der Passion authentisch zu rekonstruieren sind. Ein Beitrag aus "kirchensite", online-Nachrichtendienst des Bistums Münster.

    Für den Gibson-Film wurde mit der Parole geworben, den "authentischen", den "wahren" Jesus zu zeigen: so, wie es wirklich war. Das ist eine Illusion. Gibson hat keinen Dokumentarfilm gedreht. Er hat vieles sauber recherchiert. Aber er verfilmt nicht das Ergebnis historisch-kritischer Jesusforschung. Er knüpft an die christliche Leidensmystik des Mittelalters an. Gibson beschwört die heißen Gefühle und die großen Ängste des Glaubens, das lähmende Entsetzen und das hilflose Mitleid. Er zeigt, wie stark die Bilder traditioneller Kreuzesfrömmigkeit auch heute wirken: die Geißelsäule und die Marterwerkzeuge, das Kreuz und das Schweißtuch der Veronika.

    Wer diese Bildeindrücke als "historisch" ansieht, verwechselt die geschichtliche Realität mit der Glau-benswelt einer Zeit, die ihren eigenen Zugang zum leidenden Jesus gefunden hat. Damals war er neu und anstößig. Generationen von Christen hat er beeindruckt. Hollywood setzt auf diese Bilder. Kann das die Theologie kalt lassen?

    Leiden und Leben sind wichtig. Ganz zu recht sagt sie: Nicht nur das Leiden, auch das Leben Jesu ist wichtig. Nicht nur alte Formeln, auch neue Worte des Glaubens müssen her. Aber: Jesus ist am Kreuz gestorben. Sein Leiden war fürchterlich. Und nach den ältesten Zeugnissen des Glaubens liegt im Kreuz das Heil. Entmythologisierung allein ist keine Antwort auf die Fragen der Menschen nach Schuld und Sühne, Leid und Erlösung. Die schweren Fragen des Glaubens lauten: Warum musste Jesus sterben? Weshalb hat er sein leben hingegeben? Wofür soll der Tod Jesu gut sein?

    Der Film beantwortet diese Fragen nicht. Aber er stellt sie. Die Theologie, die Predigt, der Religionsunterricht müssen sie beantworten, oder sie hinterlassen eine spirituelle Leere. Und sie können antworten, wenn sie vom Vierten Gottesknechtslied ausgehen, das als Motto dem Film vorangestellt ist: Er hat unse-re Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. ... Durch seine Wunden sind wir geheilt (Jes. 53,4f).

    Wer der Wahrheit auf die Spur kommen will, kann sich nicht mit einem Kino-Besuch begnügen. Es führt kein Weg daran vorbei, die Leidensgeschichten der Evangelien zu lesen. Im Glauben an Jesus Christus geschrieben, sind sie die wichtigsten historischen Quellen. Sie stimmen in wichtigen Punkten nicht über-ein und zeigen damit, wie alt die Probleme sind, das historische Geschehen zu rekonstruieren. Sie stimmen aber im entscheidenden überein: dass Jesus sterben musste, weil er war, was er ist: der Sohn Gottes, der sein Leben für die Menschen einsetzt. Darin liegt die Authentizität der Evangelien.
    Das Neue Testament ist nüchterner.

    Wird der Film dem gerecht? Wer die Evangelien aufmerksam liest und mit dem Film vergleicht, macht einige wichtige Beobachtungen. Gibson nimmt nicht nur das Neue Testament auf, sondern auch viele apokryphe Jesustraditionen. Die hatten immer ihren geheimen Reiz, bis hin zu Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano. Auch im Film dienen sie der Dramatisierung, manchmal der Moralisierung. Das Neue Testament ist nüchterner - und tiefer. Weniger ist mehr.

    Die Evangelien sind im Porträt der Gegner Jesu viel differenzierter als der Film. Dass den Hohenpriester und die große Mehrheit des Hohen Rates nur Neid und Machtgier umtreibe, behauptet der Film - und ist in diesen Szenen grenzwertig, was antisemitische Untertöne anbelangt. Im Neuen Testament ist zu lesen, dass es "Eifer für Gott" (Röm. 10,2) gewesen sei, der zur Verwerfung Jesu geführt habe. Wer das nicht sieht, versteht vom theologischen Drama der Passion nichts.

    Evangelien erzählen ausführlich. Die Evangelien sind überzeugt: Jesus ist unschuldig verurteilt worden. Sie glauben: Er ist der Sohn Gottes, der "für uns" gelebt hat und so auch für uns gestorben ist. Deshalb erzählen sie in einer Ausführlichkeit vom Leiden und Sterben Jesu, wie dies im Altertum verpönt war. Haben wir uns vielleicht zu sehr daran gewöhnt? Können wir noch nachvollziehen, weshalb Paulus sagt, der Kreuzestod Jesu sei skanda-lös und absurd? Wenn der Film von Mel Gibson hilft, sich von der verbindlichen Harmlosigkeit allzu vieler Glaubensreden und Glaubensbilder zu befreien und den Schrecken nachzuempfinden, ohne den es kein Aufatmen gibt, hätte er viel erreicht.

    Es bleibt der harte Kern des Glaubensbekenntnisses: "Gekreuzigt unter Pontius Pilatus". Gefragt ist eine Theologie, die diesem Satz standhält. Angst vor großen Worten und großen Gefühlen darf sie dann nicht haben. Aber Zutrauen darein, dass im Spiegel der vier Evangelien der leidende Jesus so zu sehen ist, wie es wirklich war - und wie es bleiben wird.

    Zur Person:

    Prof. Dr. Thomas Söding ist Professor für Katholische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Er wurde soeben von Papst Johannes Paul II. zum Mitglied der Internationalen Theologenkommission ernannt, dem Beratungsgremium der Glaubenskongregation, deren Vorsitzender ("Präfekt") Joseph Kardinal Ratzinger ist.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Thomas Söding,
    Fachbereich A, Geistes- und Kulturwissenschaften
    Telefon 0202/439-2266, -2267 (Universität)
    0251/86 92 10 (privat, Münster)
    E-Mail: soedingms@aol.com


    More information:

    http://www.kirchensite.de/


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    Criteria of this press release:
    Art / design, History / archaeology, Media and communication sciences, Music / theatre, Philosophy / ethics, Religion, Social studies
    transregional, national
    Scientific Publications
    German


     

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