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11/15/2021 15:54

Kieler Wissenschaftler erforscht in neuem Buch „Von den Nazis vertrieben“ Emigrations-Biographien

Eva Sittig Presse, Kommunikation und Marketing
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

    Preisausschreiben der Harvard Universität von 1939 lieferte die Daten

    Wie veränderten sich unter der Nazi-Herrschaft Leben und Alltag derer, die verfolgt wurden? In einem Preisausschreiben stellte die Harvard Universität im Jahr 1939 diese Frage, um Material für eine wissenschaftliche Abhandlung zu sammeln. Obwohl dabei etliche Manuskripte mit Autobiographien zusammenkamen, blieb der Korpus weitgehend unerschlossen. Dr. Detlef Garz, Seniorprofessor am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), hat sich für sein jüngst erschienenes Buch „Von den Nazis vertrieben“ mit den Lebensgeschichten der Teilnehmenden beschäftigt.

    Ein Preisausschreiben als Möglichkeit der wissenschaftlichen Datenerhebung: Was sich ungewöhnlich anhört, war 1939/1940 äußerst erfolgreich. „Die Resonanz auf den mit insgesamt 1000 Dollar dotierten autobiographischen Schreibwettbewerb war groß“, hat Professor Garz recherchiert. „Die Harvard Universität erhielt über 180, zum Teil umfangreiche Lebensberichte von Emigrantinnen und Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland sowie aus Österreich, die unter anderem in die USA, die Niederlande, Frankreich, Schweden, Australien, Brasilien, Puerto Rico, Südafrika und Japan ausgewandert waren.“ Insgesamt über 18.000 Blatt Papier waren bei der Materialsammlung für „eine Untersuchung der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus‘ auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk“ – wie es auf Flugblättern und in Anzeigen in der New York Times und Emigrantenzeitungen hieß – zusammengekommen.

    „Der Korpus ist weitgehend unerschlossen“

    1984 hatte der Sozialwissenschaftler zufällig einen Hinweis auf das Preisausschreiben in der Publikation „Biographische Forschung“ von Werner Fuchs gelesen. „Ich hatte mich gefragt, was daraus geworden ist“, sagt Detlef Garz. Die Antwort war überraschend: Die Dokumente werden immer noch in der Houghton Library der Harvard Universität aufbewahrt – wurden und werden jedoch wenig genutzt. „Der Korpus ist weitgehend unerschlossen. Das Potenzial der eingesandten Autobiographien wurde im ursprünglichen Projekt weder ausgeschöpft, noch haben sich spätere Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – von einigen Ausnahmen abgesehen – systematisch mit den Unterlagen beschäftigt.“ Das wollte Garz im Rahmen seiner Forschungen und mit seinem Buch ändern. „Mich interessierten diese Biographien, da sie einen Teil der Geschichte Deutschlands betreffen, dessen Kräfte immer noch nicht an ihr Ende gekommen sind.“

    Bereits in den späten 1980er Jahren begann eine Forschungsgruppe die Manuskripte zusammengetragen, um sich eine Übersicht über das Preisausschreiben zu verschaffen. „Das war oft langwierig“, so Garz. „Manche Manuskripte wurden auf Mikrofilmen bereitgestellt, deren Bild aber so schwach war, dass wir die Texte alle vom Bildschirm abtippen mussten. Dabei blieben immer noch Lücken und Fragen offen.“ Die Arbeit an seinem Buch startete der Professor 2007/2008. Doch neben der Lehre und anderer Forschung war das Großprojekt nicht zu realisieren. Erst 2016, nach dem Eintritt in den Ruhestand, nahm Garz die Arbeit wieder auf und begab sich auf umfangreiche Recherche in Archiven in den USA, Deutschland und der Schweiz, um den oft anonym oder unter einen Pseudonym eingereichten Lebensgeschichten nachzuspüren und in Erfahrung zu bringen, was nach 1940 aus den Menschen wurde. Herausgekommen ist dabei jetzt ein 366-seitiges, aus drei Abschnitten bestehendes Werk, das für ein breites Publikum geschrieben wurde.

    Vier Biographien stehen im Mittelpunkt

    Einen ersten großen Abschnitt nimmt das Preisausschreiben als Möglichkeit der wissenschaftlichen Materialsammlung ein. Im Mittelpunkt des Buches stehen jedoch vier ausgewählte Biographien: die österreichische Wissenschaftlerin, promovierte Chemikerin und Hundezüchterin Rudolfine Menzel, die ihr Wissen und ihre Fertigkeiten in Palästina (später in Israel) für den Aufbau der neuen Heimat einbrachte; der nach Zürich emigrierter Journalist Carl Paeschke, der mit seinen Artikeln so gegen die Nationalsozialisten agiert hatte, dass diese schon vor 1933 versuchten, ihn zu ermorden; die Sozialarbeiterin Hilde Rosa Stern, Tochter des bekannten Psychologen William Stern, die sich einer Widerstandsgruppe anschloss und dafür im Gefängnis saß, bevor sie ihr Exil in den USA fand sowie der Filmkaufmann Alfred Fabian, der erst nach langen Jahren im Konzentrationslager nach Shanghai und später in die USA emigrieren konnte. „Die ausgewählten Lebensgeschichten sollen einen möglichst kontrastiven Ausschnitt aus der Fülle der eingereichten autobiographischen Manuskripte präsentieren“, sagt Garz, der mit seiner Auswahl „Erfahrungen des Lebens, des Leidens, des Widerstands, der erfolgreichen Emigration und der Ankunft und Neueinrichtung im neuen Land sichtbar machen“ will.

    Dem Professor geht es auch um das Thema moralische Anerkennung beziehungsweise Aberkennung, dem er den dritten Abschnitt des Buches widmet. Ein Beispiel zeigt der Bericht von Erich Munk, der von seinem in Kiel lebenden Bruder Hans-Ulrich berichtete. Das Bemühen des Aufsteigers um vergebliche Assimilation an die deutsche Kultur führte am Ende zur sozialen Aberkennung bis hin zum Tod. „Die Geschichte vermittelt eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn guten Menschen Böses widerfährt“, so Garz.


    Contact for scientific information:

    Prof. Dr. Detlef Garz
    Institut für Pädagogik
    Telefon: 0431/880-1236
    E-Mail: garz@paedagogik.uni-kiel.de


    More information:

    http://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/249-buch-garz


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Cultural sciences, History / archaeology, Media and communication sciences, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Scientific Publications
    German


     

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