ETH-Forschende untersuchten im Detail, wie sich während der Embryonalentwicklung das Neuralrohr formt. Sie kommen zum Schluss: Dies geschieht weniger aktiv als bisher angenommen. Auswirkungen hat das auch für das Verständnis von Fehlbildungen wie einem offenen Rücken.
Zwischen dem 22. und 26. Tag einer Schwangerschaft formt sich beim menschlichen Embryo das Neuralrohr. Später werden sich daraus Gehirn und Rückenmark entwickeln. Gebildet wird das Neuralrohr, in dem sich ein längliches flaches Gewebe, die Neuralplatte, der Länge nach U-förmig wölbt und zu einem Rohr schliesst. Was diese Entwicklung antreibt, ist bisher nicht geklärt. Forschende der Gruppe von Dagmar Iber, Professorin für rechnergestützte Biologie am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel, konnten nun zeigen: Das umliegende Gewebe dürfte dabei eine wesentliche Rolle spielen. Es übt von aussen Druck aus.
Die Bildung des Neuralrohrs ist ein äusserst wichtiger Schritt in der Embryonalentwicklung, wie Iber betont. Bei rund jedem Tausendsten Embryo formt sich dieses Rohr nicht vollständig aus. Diese Kinder kommen mit einer Wirbelsäulenfehlbildung zur Welt, in Extremfällen mit einem «offenen Rücken» (Spina bifida aperta), der operiert werden muss. Nicht zuletzt um solche Fehlbildungen besser verhindern zu können, möchten Wissenschaftler:innen die Neuralrohrbildung möglichst detailliert verstehen.
«In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Forschung intensiv mit dieser Frage beschäftigt», sagt Roman Vetter, Wissenschaftler in Ibers Gruppe und Mitautor der neuen Studie, welche die Forschenden nun im Fachmagazin PNAS veröffentlichen. So ist bekannt, dass sich in der Mitte und an den Seiten der Neuralplatte linienförmige Geweberegionen bilden, an denen die Neuralplatte besonders stark gekrümmt ist. Diese Regionen werden als Angelpunkte bezeichnet. Bisher nahmen Wissenschaftler:innen an, dass lokale biochemische Signale in den Zellen der Neuralplatte zur Bildung dieser Angelpunkte führen und dass diese Angelpunkte aktiv zur Bildung des Neuralrohrs beitragen. Allerdings gab es bisher keine Erklärung dafür, warum sich die Angelpunkte genau dort bilden, wo sie sich befinden.
Computermodellierungen führten zum Ziel
Die ETH-Forschenden postulieren nun einen alternativen Mechanismus, wonach sich die Neuralplatte nicht aktiv selbst und getrieben durch die Angelpunkte zu einem Rohr verbiegt. Vielmehr nimmt die Neuralplatte zunächst aus anatomischen Gründen eine leicht gewölbte Form ein. Anschliessend dehnt sich das auf beiden Seiten der Neuralplatte liegende Gewebe (Ektoderm und Mesoderm) aus. Dieses drückt von der Seite auf die Neuralplatte und bewirkt, dass sie sich passiv zu einem Rohr formt.
Zu diesen Erkenntnissen kamen die Forschenden mithilfe von rechnergestützter Modellierung. Aus bestehenden Bilddaten von Embryonen des Menschen und von Mäusen erstellten die Forschenden ein Computermodell der Neuralrohrbildung basierend auf den physikalischen Naturgesetzen. Anschliessend simulierten sie auf einem Supercomputer der ETH Zürich mehrere mögliche Mechanismen der Neuralrohrbildung.
Dabei zeigte sich, dass sich die Vorgänge am besten durch die Ausdehnung des umliegenden Gewebes erklären lassen. «Wir veranschaulichen damit, dass die Angelpunkte als Folge des Drucks von aussen entstehen können. Sie sind also wahrscheinlich nicht Treiber der Neuralrohrbildung, wie man bisher dachte, sondern ein Nebeneffekt davon», sagt ETH-Professorin Iber. Der Treiber scheint stattdessen das umliegende Gewebe zu sein.
Weiterer Mechanismus im unteren Rücken
Vor allem im oberen Bereich des Rückens lässt sich die Neuralrohrbildung durch die Ausdehnung des benachbarten Gewebes erklären, denn hauptsächlich in diesem Bereich ist die Neuralplatte aus anatomischen Gründen leicht vorgewölbt. Weiter unten am künftigen Rücken fehlt diese Ausgangswölbung; die Neuralplatte ist dort flach.
Mit ihren Modellierungen konnten die ETH-Wissenschaftler:innen zeigen, dass sich die Neuralrohrbildung auch dort mit externen Kräften erklären lässt: Proteinfasern und Ankerproteine helfen dort, die Neuralplatte wie einen Reisverschluss zusammenzuzurren. Dadurch wölbt sich die Neuralplatte und schliesst sich zu einem Rohr.
Die unterschiedlichen Mechanismen im oberen und unteren Rückenbereich könnten laut den Forschenden erklären, warum Fehlbildungen der Wirbelsäule nicht überall am Rücken gleich oft vorkommen. Ein offener Rücken tritt im unteren Bereich des Rückens, wo das umliegende Gewebe weniger unterstützend wirkt, häufiger auf.
«Wir konnten zeigen, dass mechanische Effekte für die Neuralrohrformung zuständig sind», sagt Vetter. «Unsere Computermodellierung war der Schlüssel dazu, dies überhaupt aufzeigen zu können.» ETH-Professorin Iber ergänzt: «Es ist unmöglich, einen mechanischen Effekt alleine mit biologischen und genetischen Experimenten ohne solche Simulationen aufzuzeigen und zu verstehen.» Experimentalforschende dürften nun mit Versuchen bei Tieren die Vorhersagen der ETH-Forschenden zu bestätigen versuchen.
Ziel ist auch, den Ursachen und damit der Prävention von Fehlbildungen einen Schritt näher zu kommen. Bekannt ist, dass ein Mangel an Folsäure sowie andere Mangelerscheinungen diese Fehlbildungen an der Wirbelsäule begünstigen. Um die dahinterliegenden Mechanismen im Detail zu verstehen, ist weitere Forschung nötig.
Prof. Dr. Dagmar Iber, +41 61 387 32 10, dagmar.iber@bsse.ethz.ch
https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2117075119
Neuralrohrbildung
ETH Zürich
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Criteria of this press release:
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Biology, Medicine, Physics / astronomy
transregional, national
Research results
German
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