Forschungsteam weist Melodie als Bindeglied zwischen Musik und Sprache empirisch nach
Musik und Sprache weisen viele gemeinsame Parameter auf, die bereits intensiv erforscht wurden. Die Melodie blieb dabei bisher jedoch weitgehend vernachlässigt. Ein Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main hat sich dieser Schnittstelle in drei aufeinander aufbauenden Studien gewidmet. Die aktuellste ist nun als Open-Access-Artikel in der Fachzeitschrift NeuroImage erschienen. Die beiden vorangegangenen wurden in den Fachzeitschriften Plos One und Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts veröffentlicht.
Gedichte haben je eine eigene Sprachmelodie, die auch als solche wahrgenommen wird. Diese lässt sich mittels statistischer Messgrößen beschreiben, wie dem sogenannten Wiederholungsmaß, das auf Reim, Metrum- und Strophenstruktur basiert. In ihrer ersten Studie analysierten die Forscher:innen mithilfe des Wiederholungsmaßes Rezitationen von 40 relativ unbekannten deutschen Gedichten durch verschiedene Sprecher:innen.
Sie fanden heraus, dass einzelne Gedichte bzw. Strophen deutliche textgesteuerte Tonhöhen- und Tondauer-Konturen aufweisen, genau wie gesungene Lieder und andere Musikstücke. Dabei stellten sie fest, dass Gedichte mit höheren Wiederholungsmaßen eher von professionellen Komponist:innen vertont worden waren als solche mit niedrigen Wiederholungsmaßen. Je stärker die Sprachmelodie ausgeprägt ist, desto höher ist also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gedicht vertont wird.
Darüber hinaus bewerteten 320 Studienteilnehmer:innen, wie melodisch die eingesprochenen Gedichte auf sie wirkten. Dabei zeigte sich: Je mehr Wiederholungen ähnlicher Tonhöhen es in der Sprechstimme gab, als desto melodischer wurden diese Gedichte bewertet. Gedichte mit hohen Wiederholungsmaßen werden also auch subjektiv als melodischer wahrgenommen.
In ihrer zweiten Studie konzentrierten sich die Forscher:innen auf den direkten Vergleich der melodischen Eigenschaften von Liedern und Gedichten. Hierzu luden sie 42 Studienteilnehmer:innen zu einer Konzertvorstellung in das „ArtLab“ des MPIEA ein – einem multifunktionalen Veranstaltungsraum, der wie ein echter Konzertsaal aufgebaut ist. Mit der entsprechenden Technik ausgestattet, dient das ArtLab gleichzeitig auch als wissenschaftliches Labor.
Während des Konzerts wurden elf der 40 Gedichte aus der ersten Studie sowie deren Vertonungen für Männerstimme und Klavier vorgetragen. Das Publikum bewertete die Gedichte und Lieder nach verschiedenen ästhetischen und emotionalen Kriterien.
Bei der statistischen Analyse der vorgetragenen Stücke konnte das Forschungsteam nachweisen, dass die Melodiebewertung von Gedichten und ihren Vertonungen ebenfalls vom statistischen Wiederholungsmaß abhängt: Je höher das Wiederholungsmaß, als desto melodischer wurde das jeweilige Stück empfunden. Die wahrgenommene Melodizität wiederum zeigte sich als wichtiger Faktor für die ästhetische Bewertung der Gedichte und Lieder: Je melodischer ein Stück eingestuft wurde, desto positiver wurde es bewertet.
„Unsere Konzertstudie ist die erste, die zeigt, dass akustische Eigenschaften die ästhetische Bewertung von Gedichten und Liedern gleichermaßen vorhersagen. Die Melodie erweist sich damit als entscheidendes Bindeglied zwischen Sprache und Musik, sowohl hinsichtlich der objektiven phonetischen Eigenschaften als auch der subjektiven ästhetischen Wahrnehmung“, erklärt Mathias Scharinger, Erstautor der Studie.
In der dritten Studie ging es um die neurobiologische Grundlage der Verarbeitung von Melodie in Gedichten und ihren Vertonungen. Hierzu setzten die Forscher:innen die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ein, mithilfe derer Hirnaktivitäten genau lokalisiert werden können.
41 Studienteilnehmer:innen begaben sich in den MRT-Scanner und hörten sich über MR-kompatible Kopfhörer insgesamt 44 Stücke an. Diese umfassten die 11 Gedichte und 11 zugehörigen Vertonungen aus der zweiten Studie sowie 11 modifizierte Versionen der Originalgedichte, bei denen Reim und Metrum entfernt worden waren, und 11 Kontrollsequenzen aus Sinustönen. Während des Hörens gaben die Teilnehmer:innen Bewertungen zu den jeweiligen Stücken ab.
Ausgehend von früheren Studien erwarteten die Forscher:innen, dass die Verarbeitung von Gedichten insgesamt eher auf der linken und die von Liedern eher auf der rechten Hemisphäre im Gehirn stattfinden würde. Die Ergebnisse der MRT-Scans bestätigten dies zwar, zeigten jedoch auch, dass eine Region im rechten Temporallappen sowohl melodische Eigenschaften der Gedichte als auch die ihrer Vertonungen verarbeitete.
Scharinger, Erstautor auch dieser Studie, erläutert: „Gedichte und ihre Vertonungen haben nicht nur strukturelle und melodische Eigenschaften gemeinsam, ihre Verarbeitung wird auch durch sich teilweise überlappende neuronale Bereiche unterstützt. Das spricht dafür, dass sich sprachliche und musikalische Melodien bezüglich ihrer Wahrnehmung sehr ähnlich sind und die Melodie eine ‚Vermittlerrolle‘ zwischen den beiden Domänen einzunehmen scheint.“
Insgesamt unterstützen alle drei Studien die These, dass die Sprachmelodie sowohl psychologische als auch neurobiologische Realität besitzt und aktiv bei der Vertonung von Gedichten genutzt wird. Damit ist das Wiederholungsmaß ein probates Mittel zur Erfassung melodischer Eigenschaften von Musik und Sprache gleichermaßen.
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Prof. Dr. Mathias Scharinger
mathias.scharinger@ae.mpg.de
Menninghaus, W., Wagner, V., Knoop, C. A., & Scharinger, M. (2018). Poetic Speech Melody: A Crucial Link Between Music and Language. PLoS cONE 13(11): e0205980. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0205980
Scharinger, M., Wagner, V., Knoop, C. A., & Menninghaus, W. (2022). Melody in Poems and Songs: Fundamental Statistical Properties Predict Aesthetic Evaluation. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/aca0000465
Scharinger, M., Knoop, C. A., Wagner, V., & Menninghaus, W. (2022). Neural Processing of Poems and Songs is Based on Melodic Properties. NeuroImage, 257: 119310. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2022.119310
Lea Fink vom MPIEA (Klavier) und Rafael Bruck (Gesang) tragen vertonte Gedichte im ArtLab des MPIEA ...
Foto: Felix Bernoully / MPI für empirische Ästhetik
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students
Language / literature, Music / theatre, Psychology
transregional, national
Research results
German
Lea Fink vom MPIEA (Klavier) und Rafael Bruck (Gesang) tragen vertonte Gedichte im ArtLab des MPIEA ...
Foto: Felix Bernoully / MPI für empirische Ästhetik
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