Im Jahr des 100. Deutschen Orientalistentags forscht Dr. Pruß vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin über die verflochtene Wissensproduktion von lokalen Eliten und Intellektuellen in Südasien und den Werken europäischer Orientalisten:
Wie wurde die Forschung europäischer Religions- und Islamwissenschaftler im kolonialen und postkolonialen Südasien rezipiert? Wie wurden ihre Schriften gelesen und diskutiert? Und vor allem, welches neue Wissen wurde als Folge dieses intellektuellen Austauschs vor Ort generiert? Welche Auswirkungen hatte es auf Politik und Gesellschaft, u.a. auf die Teilung des Subkontinents in Pakistan und Indien?
„Bent Over Arabic Manuscripts: South Asian Muslims, European Orientalism, and the Academic Study of Islam“, wie der Originaltitel des Forschungsprojekts auf Englisch lautet, ist eine Fach- und Rezeptionsgeschichte der Islamwissenschaft von Dr. Maria-Magdalena Pruß.
Während der Kolonialzeit entstanden in Südasien, vor allem im heutigen Indien und Pakistan,
zahlreiche Institutionen nach westlichem Vorbild, in welchen lokale Gelehrte und Denker*innen tätig waren. Maria-Magdalena Pruß untersucht in ihrem Projekt, wie Wissenschaftler*innen an diesen Universitäten und Colleges zum Islam forschten und damit Debatten vor Ort sowie translokale Diskurse bis in den Nahen Osten und nach Europa hinein prägten. Dabei schaut sie sich an, welchen Einfluss die Vorstellungen europäischer Wissenschaftler*innen über die islamische Religion auf das Denken dieser lokalen Gelehrten und Intellektuellen hatte. Wie wirkte die europäische Wissenschaft vom Orient zurück? Denn die Wissensproduktion des Islams in Südasien im 19. und 20. Jahrhundert beruht nicht nur auf den klassischen, lokalen Wissenschaften, sondern rezipiert unter anderem auch Quellen in europäischen Sprachen.
Wenig erforscht ist hierbei der Einfluss deutschsprachiger Islamwissenschaftler*innen, welche in der Wissensproduktion zum Islam in Südasien eine große Rolle spielten. So wurden z.B. Werke des österreichischen Orientalisten Alfred von Kremer vom indischen Gelehrten Salahuddin Khuda Bakhsh ins Englische übersetzt. Viele muslimische Intellektuelle in Indien standen zudem mit Größen des Faches, wie zum Beispiel dem ungarischen Gelehrten Ignaz Goldziher, in regem Austausch. Bis heute prägt dieser Austausch internationale, wissenschaftliche Diskurse. Ziel der Forschung von Maria-Magdalena Pruß ist es, herauszufinden, wie gerade diese deutschen und europäischen Werke rezipiert wurden und wie sie Islambilder in Südasien beeinflussten.
Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Entstehung des Nationalstaats Pakistan 1947. Die
Formierung Pakistans wurde von seinen Befürworter*innen als Schaffung einer “Heimstätte für die Muslime Indiens” propagiert. Hintergrund war, dass ein Teil der Muslime im britisch-kolonialen Indien schon länger um größere politische Anerkennung und Autonomie als Minderheit kämpfte, aber eben ab 1940 auch verstärkt für die Schaffung eines eigenen Staates eintrat. Verschiedenste Strömungen im indischen Islam unterstützten die Gründung Pakistans im Jahr 1947 und beteiligten sich auch aktiv daran. Dies umfasste jedoch lange nicht alle Muslime, von denen ein größerer Teil die indische Unabhängigkeitsbewegung unterstützten. Heute ist Indien der zweitgrößte muslimische Staat der Welt. Die enorme historische Schlagkraft Pakistans als Projekt des “religiösen Nationalismus” wirft die Frage auf, welches Islambild auf Seiten der Protagonist*innen hinter den Forderungen nach einer “Heimstätte für Muslime” stand. Anhand von Diskussionen unter Student*innen in den 1930ern und 1940ern über die Gestalt des neuen Staates Pakistan, von Schriften “westlich” ausgebildeter Universitätsprofessoren zu Islam und Nationalismus, und aufgrund der Rolle von “säkularen” Bildungseinrichtungen als Plattformen für politische Agitation verfolgt Pruß die Auswirkungen orientalistischer Forschung auf Ausprägungen des südasiatischen Nationalismus. Sie zeigt, welchen Einfluss sich wandelnde Vorstellungen über den Islam, auf Politik und Gesellschaft ausüben.
Das Projekt ist Teil des Forschungsfeldes „Umstrittene Religion und Intellektuelle Kultur“, welches sich mit Verbindungen zwischen Religion, Moral und intellektueller Kultur beschäftigt.
Seit 2020 ist die Historikerin Maria-Magdalena Pruß wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZMO. Sie promovierte an der Princeton University im Fachbereich Religionswissenschaften mit dem Schwerpunkt Islam und absolvierte ihren Master an der Universität Oxford in Kolonialgeschichte mit Fokus auf Südasien. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der Sozial- und Geistesgeschichte des Islams sowie muslimischer Gemeinschaften in Südasien, religiösen Minderheiten, sowie dem interreligiösen Dialog. 2023 erscheint ihre Monographie „Between Mosque, School and Printing Press: Islamic Modernism in Colonial Punjab (McGill-Queens University Press).
Maria-Magdalena Pruß steht für Interviews zur Verfügung. Anfragen bitte an Sonja Hegasy: sonja.hegasy(at)zmo.de
Dr. Maria-Magdalena Pruß
http://www.zmo.de Leibniz-Zentrum Moderner Orient
http://www.zmo.de/forschung/hauptforschungsprogramm/umstrittene-religion/bend-ov... Forschungsprojekt Dr. Maria-Magdalena Pruß
http://www.mariapruss.com Webseite Dr. Pruß
Islamia College Lahore, 1925
Government Islamia College
Verflochtene Wissensproduktion
Vaibhav Raina
Unsplash
Criteria of this press release:
Journalists
Cultural sciences, History / archaeology, Politics, Religion, Social studies
transregional, national
Research projects, Transfer of Science or Research
German
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