Historiker der Universität Jena untersuchen in neuem DFG-Projekt konkurrierende Deutungskulturen
Jena (24.05.04) Eisenach, Jena, Weimar. Diese Namen bezeichnen nicht nur Städte auf der topographischen, sondern auch Symbolorte auf der geistigen Landkarte unserer Nation. Ihre Nennung löst eine Gedankenkette aus: Wartburg, Luther, Reformation, Burschenschaften, Klassik, Goethe und Schiller, Weimarer Republik, Bauhaus. Doch schlägt deswegen gleich Deutschlands "kulturelles Herz" im mitteldeutschen Raum? Ist das Label vom "grünen Herzen Deutschlands" eine Sehnsuchtsmetapher oder eine clevere Vermarktungsstrategie? Wer schuf das Bild von der "politisch schwachen aber kulturell starken deutschen Mitte"? Solchen Fragen der symbolischen Aufladung einer Region haben Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Bauhaus-Universität Weimar und der Stiftung Weimarer Klassik von 2001-2003 in einem Verbundprojekt untersucht, das vom Freistaat Thüringen gefördert wurde. Jetzt hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Gelder für Folgeprojekte bewilligt. Das an der Universität Jena angesiedelte neue Projekt untersucht "Deutschlands Mitte als Entwurf industrieller, technischer und naturwissenschaftlicher Eliten".
"Schon der Begriff ,Mitteldeutschland' ist bis heute strittig; erst recht das Raum- und Wertkonstrukt ,Deutsche Mitte'", sagt Projektleiter Prof. Dr. Jürgen John. Räume seien nun einmal nicht vorgegeben, sondern "Produkte menschlichen Handelns", so der Jenaer Historiker. Deshalb wurden in der ersten Phase u. a. zwischen 1870 und 1960 erschienene National-, Kunst- und Literaturgeschichten nach ihrer Deutung der "deutschen Mitte" befragt Darunter "Meistererzählungen" und populäre Geschichtskompendien, die seit dem späten 19. Jahrhundert in keinem bildungsbürgerlichen Bücherschrank fehlen durften.
"Diese Werke hatten großen Einfluss auf Einstellungen und Mentalitäten bürgerlicher Schichten", erläutert Dr. Monika Gibas. Die Projektbearbeiterin zeigt auf, dass die Autoren keinen Hehl daraus machten, dass sie mit ihren Werken die Leser zu neuem Nationalbewusstsein erziehen wollten. "Die Nationalgeschichtsschreibung zwischen 1870 und 1960 kann als hochambitionierte Veranstaltung zur kollektiven Sinnstiftung und Wertevermittlung charakterisiert werden", bilanziert die Historikerin.
"Dabei fällt auf, dass nicht nur die kulturellen Leistungen, z. B. Luthers oder Goethes gewürdigt werden. Auch die geographische Region, in der sie wirken, wird zum nationalen Erinnerungsort stilisiert", so Gibas.
Stilisieren die Nationalgeschichten Karl Lamprechts oder Heinrich von Treitschkes die "deutsche Mitte" zum "kulturellen Zentrum", so wird sie nach 1945 in DDR-Standardwerken zum "revolutionären Zentrum" der Nation erklärt. Zu den traditionellen Symbolnamen und -orten gesellen sich neue, wie der "Bauernkriegsführer" Thomas Müntzer oder das "rote Mansfeld". Nachzulesen ist dies in dem Buch "Mitten und Grenzen". Die im Leipziger Universitätsverlag erschienene Publikation zieht eine erste Bilanz. Ein weiterer Tagungsband zu den "Mythen der Mitte" befindet sich im Druck.
Nachdem die Jenaer Historiker die bildungsbürgerlichen Deutungen der "deutschen Mitte" analysiert haben, wollen sie nun in dem neuen DFG-Projekt deren symbolische Aufladungen durch die industriellen, technischen und naturwissenschaftlichen Eliten der 1870er bis 1960er Jahre erforschen. Dies geschieht anhand regionaler Fallstudien zu den Industrieregionen Halle/Leuna-Bitterfeld, Chemnitz/Karl-Marx-Stadt und Jena mit seinen Symbolfiguren Haeckel, Abbe, Zeiss und Schott. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts konkurrieren bildungsbürgerliche und industriell-technische Deutungen miteinander. Mit der Untersuchung dieses Sachverhalts betritt das Projekt Neuland. Eines steht jedoch jetzt schon fest: Auch die scheinbar so nüchtern-technokratischen Mitglieder der wirtschaftlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Eliten webten in Publizistik, Marketing- und Selbstbildstrategien kräftig am Mythos der "deutschen Mitte" mit.
Zum Nachlesen: "Mitten und Grenzen. Zu zentralen Deutungsmustern der Nation" (Hg. Monika Gibas), Leipziger Universitätsverlag (2003), ISBN: 3-936522-85-5.
Kontakt:
Prof. Dr. Jürgen John und Dr. Monika Gibas
Historisches Institut der Universität Jena
Fürstengraben 13, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944400
E-Mail: Ramona.Steinhauer@uni-jena.de oder gibas@rz.uni-leipzig.de
Criteria of this press release:
History / archaeology, Language / literature
transregional, national
Research projects, Research results
German
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