Blind Dating in der Bakterien-Evolution
Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für terrestrische Mikrobiologie in Marburg und der Technischen Universität Berlin rekonstruierten längst ausgestorbene Proteine eines UV-Schutzsystems von Cyanobakterien. Das überraschende Ergebnis: die Proteine passten bereits perfekt zueinander, als sie zufällig aufeinandertrafen. Diese Entdeckung erweitert die bisherige Kenntnis zu den Spielregeln der Evolution.
Proteine sind die Schlüsselakteure bei nahezu allen molekularen Vorgängen in der Zelle. Um ihre unterschiedlichen Funktionen zu erfüllen, müssen sie mit anderen Proteinen interagieren. Solche Protein-Protein-Wechselwirkungen werden durch äußerst komplementäre Schnittstellen vermittelt. Hier sind in der Regel viele Aminosäuren ganz genau positioniert, um eine enge, spezifische Passung zwischen den Proteinen herzustellen.
Wirkt stets die Kraft der natürlichen Auslese?
Die klassische Evolutionstheorie geht davon aus, dass sich jedes neue biologische Merkmal, das viele Komponenten umfasst (wie die Aminosäuren, die eine Interaktion zwischen Proteinen ermöglichen), stufenweise entwickelt. Nach diesem Konzept wird jede noch so kleine funktionelle Verbesserung durch die Kraft der natürlichen Auslese vorangetrieben, weil mit dem neuen Merkmal ein gewisser Nutzen verbunden ist. Ob jedoch auch Protein-Protein-Wechselwirkungen stets diesem Prozess folgen, war bisher nicht hinreichend geklärt.
Manchmal hilft der Zufall der Evolution
In einem hoch interdisziplinären Ansatz ist ein internationales Team dieser Frage auf den Grund gegangen. Federführend daran beteiligt waren die Arbeitsgruppen von Dr. Georg Hochberg vom Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg und Prof. Dr. Thomas Friedrich, Leiter des Fachgebiets „Physikalische Chemie – Bioenergetik“ an der TU Berlin. Ihre Studie, die kürzlich in der Zeitschrift Nature Ecology and Evolution veröffentlicht wurde, liefert den eindeutigen Beweis, dass sich hochgradig komplementäre und biologisch relevante Protein-Protein-Interaktionen rein zufällig entwickeln können.
Testfall Photosynthese
Die Forscher*innen machten die Entdeckung in einem biochemischen System, das Mikroben zur Anpassung an widrige Lichtverhältnisse verwenden. Cyanobakterien nutzen Sonnenlicht, um mittels Photosynthese ihre eigene Nahrung zu produzieren. Da zu viel Licht die Zelle schädigt, nutzen die Bakterien einen Mechanismus, der als Photoprotektion bekannt ist: Wenn die Lichtintensität gefährlich hoch wird, ändert ein Lichtintensitäts-Sensor namens Orange Carotenoid Protein (OCP) seine Form. In dieser aktivierten Form schützt OCP die Zelle, indem es die überschüssige Lichtenergie in harmlose Wärme umwandelt. Um wieder in den Ausgangszustand zurückkehren zu können, sind einige OCPs auf ein zweites Protein angewiesen: Das Fluorescence Recovery Protein (FRP) bindet an aktiviertes „OCP1“ und beschleunigt dessen Wiederherstellung.
Zeitmaschine benötigt
„Wir fragten uns: Ist es möglich, dass die Strukturen, die es diesen beiden Proteinen ermöglichen, einen Komplex zu bilden, rein zufällig und nicht durch direkte natürliche Selektion entstanden sind?“, sagt Georg Hochberg. „Die Schwierigkeit besteht darin, dass das Ergebnis beider Prozesse gleich aussieht. Wir können normalerweise nicht sagen, weshalb sich gerade die für eine bestimmte Interaktion erforderlichen Aminosäuren entwickelt haben, ob durch natürliche Selektion oder durch Zufall. Dazu bräuchten wir eine Zeitmaschine, mit der wir den genauen Zeitpunkt des Auftretens dieser Mutationen beobachten können.“
Ahnen-Rekonstruktion von Proteinsequenzen
Glücklicherweise geben die jüngsten Fortschritte in der Molekularbiologie und der computergestützten Biologie den Forscher*innen eine Art Labor-Zeitmaschine an die Hand: die Ahnen-Rekonstruktion von Proteinsequenzen, die in der Arbeitsgruppe von Georg Hochberg durchgeführt wird. Zudem ist das Lichtschutz-System der Cyanobakterien, mit dem sich die Gruppe von Thomas Friedrich an der Technischen Universität Berlin seit mehreren Jahren beschäftigt, ideal dafür geeignet, das evolutionäre Zusammentreffen zweier Proteinkomponenten zu erforschen. Frühe Cyanobakterien erhielten nämlich die FRP-Proteine durch horizontalen Gentransfer von einem Proteobakterium. Dieses hatte selbst keine Fähigkeit zur Photosynthese und besaß somit auch kein OCP-Protein.
Um herauszufinden, wie sich die Interaktion zwischen OCP1 und FRP entwickelte, rekonstruierte Niklas Steube, Erstautor der Studie und Doktorand am Marburger Max-Planck-Institut, am Computer die Sequenzen der OCP- und FRP-Proteine, die vor Milliarden von Jahren existierten. Dazu benutzte er den Umstand, dass es in verschiedenen Cyanobakterien ähnliche OCP-Proteine gibt (neben OCP1 auch „OCP2“ und „OCPx“), die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen müssen. Ausgehend von diesen kleinen Unterschieden ist es möglich, den Stammbaum der OCP-Proteine zu rekonstruieren und auf den „Protein-Urahn“ zu schließen. Dessen Aminosäure-Sequenzen übersetzte Steube anschließend in DNA und brachte sie in E.coli-Bakterienzellen ein. Diese produzierten dann die Urahn-Proteine, die anschließend aus den Bakterien gereinigt wurden, um ihre molekularen Eigenschaften untersuchen zu können. Bei den FRP-Proteinen ging Steube ähnlich vor.
Die Proteine passten zufällig zueinander, noch ehe sie zusammenkamen
Das Berliner Team um Professor Thomas Friedrich und den Doktoranden Marcus Moldenhauer prüfte dann im Labor mit Hilfe von Spektroskopie mit sichtbarem Licht, ob die Proteinpartner miteinander interagieren. „Überraschenderweise passte das FRP aus den Proteobakterien bereits zum Ur-OCP der Cyanobakterien, noch bevor der Gentransfer stattgefunden hatte. Die gegenseitige Kompatibilität von FRP und OCP hat sich also völlig unabhängig voneinander in den unterschiedlichen Arten entwickelt“, sagt Thomas Friedrich.
Damit konnte das Team nachweisen, dass die Fähigkeit der Proteine zur Wechselwirkung ein glücklicher Zufall gewesen sein muss: Da sich die beiden Proteine zuvor nie begegnet sind, kann es nicht Selektion gewesen sein, die ihre Oberflächen so gestaltete, dass eine Wechselwirkung möglich war. Damit wurde nun erstmals gezeigt, dass sich Wechselwirkungen dieser Art auch ohne direkten Selektionsdruck entwickeln können.
Solche Zufälle könnten in der Evolution häufig vorgekommen sein
„Das mag wie ein außergewöhnlicher Zufall erscheinen“, sagt Niklas Steube. „Ungefähr so, als landete ein außerirdisches Raumschiff auf der Erde und wir stellten fest, dass es steckerförmige Objekte enthält, die perfekt in die vom Menschen geschaffenen Steckdosen passen. Aber tatsächlich treffen Proteine häufig auf eine große Anzahl neuer potenzieller Interaktionspartner, wenn sich Lokalisierungs- oder Expressionsmuster innerhalb der Zelle ändern, oder wenn durch horizontale Gentransfers neue Proteine in die Zelle gelangen.“
Georg Hochberg fügt hinzu: „Selbst wenn nur ein kleiner Teil solcher Begegnungen produktiv ist, könnte die zufällige Kompatibilität als Grundlage für einen bedeutenden Teil der Interaktionen dienen, die wir heute in Zellen vorfinden. Wie in menschlichen Partnerschaften könnte demnach auch in der Evolution eine gute Verbindung die Folge eines zufälligen Zusammentreffens zweier kompatibler Partner sein.“
Link zur Studie: https://www.nature.com/articles/s41559-023-02018-8
Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Prof. Dr. Thomas Friedrich
Technische Universität Berlin
Fachgebiet Physikalische Chemie – Bioenergetik
Tel.: +49 (0)30 314 – 24128
E-Mail: thomas.friedrich.1@tu-berlin.de
https://www.nature.com/articles/s41559-023-02018-8
Criteria of this press release:
Journalists
Chemistry
transregional, national
Research results
German
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