idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
05/09/2023 10:11

Wie Deutschland ohne russisches Gas durch den Winter kam

Svenja Ronge Dezernat 8 - Hochschulkommunikation
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

    Die deutsche Wirtschaft hat das Ende der russischen Gaslieferungen verkraftet und hätte auch einem Importstopp ab April 2022 standhalten können. Das zeigt eine Analyse von Prof. Dr. Moritz Schularick, Mitglied des Exzellenzclusters ECONtribute der Universitäten Bonn und zu Köln und designierter Präsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft zusammen mit Prof. Dr. Benjamin Moll (London School of Economics) und Dr. Georg Zachmann (Bruegel). Die Studie ist als „ECONtribute Policy Brief“ erschienen.

    Für ihre Analyse blicken Schularick und seine Kollegen auf kürzlich veröffentlichte Zahlen für das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese bestätigen, dass die deutsche Wirtschaft dem Ende der russischen Gasimporte standgehalten hat. „Dieses Ergebnis sollte die im letzten Jahr ausgelöste Debatte über die Auswirkungen eines Importstopps russischer Energie endgültig beenden“, sagt Moritz Schularick, Professor beim Exzellenzcluster ECONtribute an der Universität Bonn. Bereits im Frühjahr 2022 hatte sein Team anhand eines makroökonomischen Modells berechnet, welche wirtschaftlichen Folgen ein Stopp russischer Energieimporte hätte. Die Analyse prognostizierte einen Rückgang des BIP von bis zu drei Prozent im Vergleich zu einem Szenario ohne Embargo.

    Anpassungsfähigkeit der Industrie unterschätzt

    Das BIP wuchs 2022 um knapp zwei Prozent, obwohl Deutschland im Juni teilweise und im August vollständig vom russischen Gas abgeschnitten war. Auch während der Heizperiode konnte Deutschland eine Rezession vermeiden. Das BIP schrumpfte nach vorläufigen Schätzungen im vierten Quartal 2022 zwar zunächst um 0,5 Prozent, stagnierte dann aber im ersten Quartal 2023. Die Zahlen bestätigen, was die Forschenden bereits im vergangenen Frühjahr prognostizierten: Die Industrie passte sich der Energiekrise an und sparte Gas ein. Während die Produktion in energieintensiven Sektoren wie Chemie und Glas stark zurückging, waren andere Sektoren laut Statistischem Bundesamt kaum betroffen. „Marktwirtschaften haben eine enorme Anpassungsfähigkeit, die massiv unterschätzt wurde“, sagt Schularick. Darüber hinaus sei Deutschland sehr erfolgreich bei der schnellen Beschaffung von Gaslieferungen aus Drittländern und dem Aufbau von Flüssigerdgas-Kapazitäten (LNG, Liquefied Natural Gas) gewesen.

    Das Ergebnis sei nicht von milden Wintertemperaturen getrieben. Die durchschnittliche Wintertemperatur war im Winter 2022/23 mit 2,9 Grad Celsius laut Deutschen Wetterdienst sogar leicht kälter als die Durchschnittstemperatur in den vier vorherigen Wintern. Hinzu kamen der Ausfall vieler französischer Atomkraftwerke und der Brand in der größten amerikanischen LNG-Anlage, die die Anpassung erheblich erschwerten.

    Fazit: Wirtschaft hätte Importstopp im April 2022 standhalten können

    Auch bei einem früheren Ende der Gasimporte aus Russland Ende März 2022 wäre Deutschland ohne Gasengpässe durch den Winter gekommen. Die Daten zu Gasimporten und der Füllstände der Gasspeicher am Ende der Heizperiode zeigen, dass die russischen Gasimporte nach März 2022 nicht ausschlaggebend für die deutsche Versorgungssicherheit waren. Unter Berücksichtigung der Importe von russischem Gas über Drittländer sowie der Reexporte importierte Deutschland zwischen April und August 2022 rund 100 Terawattstunden Gas aus Russland, was etwa 40 Prozent der maximalen Speicherkapazität entspricht.

    Im April 2023 waren die Gasspeicher zu rund 65 Prozent gefüllt. Bei einem Importstopp im April 2022 hätte Deutschland den Winter also mit bis zu 25 Prozent gefüllten Gasspeichern überstanden. Da eine Abschaltung Anfang April 2022 mit dem Ende der vorangegangenen Heizperiode und einem Rückgang der Nachfrage der Haushalte zusammengefallen wäre, hätten die Gasvorräte den Berechnungen zufolge zu jedem Zeitpunkt ausgereicht, um sowohl den Gasbedarf der Industrie als auch den der Haushalte zu decken.

    „Dass ‚Glück‘ Deutschland durch den Winter gebracht hat, wurde in der öffentlichen Debatte erheblich überbewertet“, fasst Schularick zusammen. Der Erfolg sei vor allem auf die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft in Kombination mit einer guten Wirtschaftspolitik zurückzuführen.

    ECONtribute: Einziger wirtschaftswissenschaftlicher Exzellenzcluster

    Die Studie ist unter anderem im Rahmen von ECONtribute entstanden. Es handelt sich dabei um den einzigen wirtschaftswissenschaftlichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Exzellenzcluster – getragen von den Universitäten in Bonn und Köln. Der Cluster forscht zu Märkten im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ziel von ECONtribute ist es, Märkte besser zu verstehen und eine grundlegend neue Herangehensweise für die Analyse von Marktversagen zu finden, die den sozialen, technologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der heutigen Zeit, wie zunehmender Ungleichheit und politischer Polarisierung oder globalen Finanzkrisen, gerecht wird.


    Contact for scientific information:

    Inhaltlicher Kontakt:

    Prof. Dr. Moritz Schularick
    ECONtribute: Markets & Public Policy, Universität Bonn
    Tel. +49 228 73-7976
    schularick@uni-bonn.de

    Presse und Kommunikation:

    Carolin Jackermeier
    ECONtribute: Markets & Public Policy
    Tel. +49 221 470 7258
    carolin.jackermeier@uni-bonn.de


    Original publication:

    Benjamin Moll, Moritz Schularick, Georg Zachmann: Nicht einmal eine Rezession: Die große deutsche Gasdebatte im Rückblick, ECONtribute Policy Brief No 48. Internet: https://www.econtribute.de/RePEc/ajk/ajkpbs/ECONtribute_PB_048_2023.pdf


    Images

    Criteria of this press release:
    Journalists
    Economics / business administration
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).