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06/20/2023 16:37

Hate Speech: Worte wiegen schwerer als Taten

LMU Stabsstelle Kommunikation und Presse
Ludwig-Maximilians-Universität München

    Eine neue LMU-Studie zeigt: Menschen verurteilen Hassrede stärker als nonverbale Diskriminierung mit der gleichen Intention und gleichen Folgen.

    Verbale Attacken gegen marginalisierte Gruppen können bei den Opfern erheblichen Schaden anrichten. Trotzdem werden viele Fälle von Hassrede nicht gemeldet oder angezeigt. „Wir sehen das im Sport, auf der Straße, in den Schulen und in den Parlamenten“, sagt Jimena Zapata vom Lehrstuhl für Philosophy of Mind der LMU. Der hohe Anteil nicht gemeldeter Vorfälle von Hate Speech sei äußerst besorgniserregend. Um herauszufinden, woran das liegen könnte, hat die Juristin und Sprachphilosophin zusammen mit ihrer Kollegin Professorin Ophelia Deroy untersucht, wie Menschen auf verschiedene Formen von Diskriminierung reagieren. In ihrer Studie, die im Fachmagazin Scientific Reports erschienen ist, vergleichen sie, wie Zeugen von Hassverbrechen diese wahrnehmen und beurteilen, wenn der Hass entweder verbal oder non-verbal geäußert wird.

    Die Ergebnisse überraschten die beiden Wissenschaftlerinnen. Denn, entgegen ihrer ursprünglichen Erwartung, zeigen die Experimente, dass die Teilnehmer der Befragung verbale Hassattacken als strafwürdiger, verurteilenswerter und für das Opfer schädlicher einstufen als nonverbale Angriffe. „Die Literatur zum Thema sagt eigentlich vorher, dass Taten stärker verurteilt werden als Worte. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein“, sagt Philosophin und Kognitionswissenschaftlerin Ophelia Deroy.

    Für die Studie konfrontierten Zapata und Deroy über 1.300 Teilnehmende mit Szenarien, in denen Personen beispielsweise aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder Herkunft angegriffen werden. Die Intention der Täter und die Folgen für die Opfer waren in diesen Szenarien für verbale und nonverbale Attacken identisch. Die Forscherinnen fokussierten sich dabei insbesondere auf solche Vorfälle, die in der Regel weniger häufig gemeldet werden. In der Befragung wurden deswegen physische Gewalt und heftige Kraftausdrücke bewusst ausgeklammert. „Natürlich führen körperliche Angriffe zu unmittelbar sichtbaren Schäden. Man sieht den blauen Fleck, wenn mich jemand ins Gesicht schlägt, weil ich einer bestimmten Gruppe angehöre, aber wenn mir jemand hinterherruft, dass ich nicht hierhergehöre, sieht man den Schaden vielleicht nicht – und doch ist er da und manchmal sogar länger anhaltend“, erklärt Deroy. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Hassrede, wenn wir die Folgen gleichsetzen, als schlimmer empfunden wird als eine durch Hass motivierte körperliche Handlung.“ Zu den präsentierten nonverbalen Handlungen zählten beispielsweise das Spucken vor die Füße, oder das demonstrative Wegsetzen in der U-Bahn. Der Effekt auf die Zeugen bleibt sogar dann bestehen, wenn das Opfer selbst nichts von der hasserfüllten Handlung mitbekommt.

    Gegen Gruppen und Gesellschaft

    Dass Worte als verwerflicher angesehen werden als Taten, erklären die Philosophinnen mit dem Phänomen der sogenannten Handlungsaversion, der zufolge Menschen bestimmten Handlungen gegenüber eine grundsätzliche Abneigung empfinden, egal welche Konsequenzen diese haben – in diesem Fall also ein Akt des Hasses in der Öffentlichkeit. Außerdem sei die verbale Formulierung von Hass expliziter und damit schwerer zu ignorieren. Hinzu kommt, dass diskriminierende Äußerungen nicht nur das einzelne Opfer betreffen: „Hassrede richtet sich nicht nur gegen eine spezifische Person, sondern gegen das Individuum als Mitglied einer bestimmten Gruppe“, erklärt Zapata. „Sie verstößt gegen den Grundsatz gleicher Menschenwürde und -rechte und wirkt sich auf das unmittelbare Opfer, Umstehende, andere Mitglieder des angesprochenen Kollektivs und die Gesamtgesellschaft aus.“ Auch wenn das Opfer selbst die Worte nicht hören kann, können diese bei zufälligen Beobachtern trotzdem Schaden anrichten.

    Die Forscherinnen räumen ein, dass sich ihre Studie auf weniger extreme Formen von Hassvorfällen konzentriere. Des Weiteren sei die Befragung im Vereinigten Königreich durchgeführt worden, wo es, im Gegensatz zu anderen Ländern, bereits Gesetze zur Bekämpfung von Hate Speech gebe. Sie betonen, dass in diesem Bereich weitergeforscht werden sollte, um herauszufinden, inwiefern verbale und nonverbale Gewalt miteinander verglichen werden können und wie sie sich auf verschiedene Gruppen auswirken.
    Trotzdem haben die Ergebnisse der neuen Studie weitreichende Auswirkungen auf die Bereiche der Sozialpsychologie, der Moraltheorie und auf gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Hassrede, so die Autorinnen. „Unsere Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zum laufenden Dialog über Hassreden und vertieft unser Verständnis der psychologischen Prozesse, die hinter moralischer Verurteilung stehen“, sagt Zapata. „Durch die Auseinandersetzung mit diesen Fragen können politische Entscheidungsträger und die Gesellschaft wirksamere Vorschriften und Strategien zur Bekämpfung von Hate Speech und zur Förderung eines integrativeren und toleranteren Umfelds entwickeln.“


    Contact for scientific information:

    Prof. Dr. Ophelia Deroy
    Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft
    Lehrstuhl für Philosophy of Mind
    E-Mail: ophelia.deroy@lrz.uni-muenchen.de


    Original publication:

    Zapata, J., Deroy, O. Ordinary citizens are more severe towards verbal than nonverbal hate-motivated incidents with identical consequences. Sci Rep 13, 7126 (2023)
    https://doi.org/10.1038/s41598-023-33892-8
    https://www.nature.com/articles/s41598-023-33892-8


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Cultural sciences, Language / literature, Philosophy / ethics, Psychology, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Scientific Publications
    German


     

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