idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
06/30/2023 11:00

Prospektive randomisierte Studie zeigt bei benignem Lagerungsschwindel die Überlegenheit des Semont-Plus-Manövers

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Eine aktuelle Studie zeigte [1], dass es bei einem BPPV, dem sogenannten gutartigen Lagerungsschwindel („benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel“) mit ausgeprägten Drehschwindelattacken, mit dem Semont-Plus-Manöver (SM-Plus, bestimmte Abfolge von Kopfdrehungen mit Tieflagerung des Kopfes um 60°) schneller zur Beschwerdefreiheit kommt als mit dem alternativen Epley-Manöver; in einer Studie aus dem Jahr 2021 wurde bereits die Überlegenheit des SM-Plus gegenüber dem normal SM nachgewiesen. Das SM-Plus kann nach Ansicht des Studienteams um Professor Strupp aus München für die praktische Anwendung empfohlen werden, insbesondere als Selbstmanöver nach entsprechender Anleitung.

    Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV) ist eine Erkrankung des Gleichgewichtsorgans (Vestibularapparat oder Labyrinth) im Innenohr. 2,4% aller Menschen erleben irgendwann im Leben einen BPPV [2]. Er ist durch wiederkehrende kurze Episoden von starkem Drehschwindel gekennzeichnet, ausgelöst durch Bewegung bzw. Positionsveränderungen des Kopfes. Der Schwindel wird verursacht durch Ohrsteinchen (Otokonien), die sich (meist ohne konkrete Ursache) aus ihrer Verankerung im Gleichgewichtsorgan gelöst haben und frei in der Flüssigkeit der Bogengänge schwimmen. Eine altersbedingte Degeneration der Otokonien scheint beizutragen, denn ältere Menschen sind häufiger betroffen. Als benigne gilt der BPPV, weil er meistens auch ohne Behandlung wieder abklingt – nach Tagen, Wochen oder manchmal Monaten. Die Beeinträchtigung der Betroffenen im Alltag ist jedoch stark, oft ist nicht einmal Laufen problemlos möglich.

    Die Therapie besteht in manuellen Befreiungsmanövern; dabei bewegt die Ärztin/der Arzt Oberkörper und Kopf der Betroffenen auf einer Liege in einer bestimmten Abfolge von Positionen, wodurch die Steinchen den Weg aus dem Bogengang herausfinden sollen. Mehrheitlich ist der hintere der drei Bogengänge betroffen („posterior canal“, pcBPPV). Dabei sind sowohl das sogenannte Epley-Manöver (EM) als auch das Semont-Manöver (SM) sehr wirksam; bei korrekter Durchführung liegt die Erfolgsquote bei bis zu 95% [1]. In den meisten Fällen müssen die Manöver mehrmals erfolgen, bis Beschwerdefreiheit erzielt wird. Die Manöver können nach genauer Anleitung auch vom Betroffenen selbst durchgeführt werden; die Erfolgsquote ist dann oft etwas niedriger. Vergleiche von SM und EM ergaben bisher keine Unterschiede in ihrer Wirksamkeit. Die Wahl des Manövers hängt von der Erfahrung der Therapeutin oder des Therapeuten und von individuellen Faktoren ab, beispielsweise, ob bei dem Betroffenen Schulter- oder Nackenprobleme bestehen.

    Basierend auf Erkenntnissen durch biophysikalischen Modellen und Computersimulationen wurde vor einigen Jahren von einer Arbeitsgruppe aus München um Prof. Michael Strupp (Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum; Klinikum der Ludwig Maximilians Universität München) sowie einem Team aus der Schweiz das „SM-plus“ entwickelt [3], wobei die exakten Drehwinkel der Bogengänge bzw. des Kopfes ermittelt wurden, um die „Wanderung“ der Otokonien zu optimieren. In einer prospektiven randomisierten Studie konnte dabei gezeigt werden, dass SM-plus dem normalen SM überlegen ist, denn die Zeit bis zur Beschwerdefreiheit verkürzte sich von median zwei Tagen (Range 1–21; im Mittel 3,6 Tage) mit dem klassischen SM auf einen Tag (Range 1-8; im Mittel 1,8 Tage) mit dem SM-plus-Manöver (p<0,001) [4].

    Eine neue Studie verglich nun in drei europäischen Zentren (München, Siena/Italien, Brügge/Belgien) prospektiv und randomisiert die Wirksamkeit des SM-plus mit dem Epley-Manöver (EM) bei pcBPPV. Dafür wurden 253 Patientinnen und Patienten im Rahmen der routinemäßigen ambulanten Versorgung gescreent; 214 (mittleres Alter 62,6±13,9 Jahre; 64,1% weiblich) konnten für die Studie randomisiert und jeweils 97 (EM) und 98 (SM-Plus) abschließend analysiert werden. Nach Randomisierung in die SM-Plus- oder EM-Gruppe erhielten die Betroffenen ein erstes ärztlich durchgeführtes Manöver und praktizierten dies dann nach genauer Anleitung (schriftlich und bildlich) als Selbstmanöver 9x pro Tag zu Hause (je 3 x morgens, mittags und abends). Die Teilnehmenden dokumentierten jeden Morgen, ob sie noch einen Lagerungsschwindel hatten. Primärer Endpunkt war die Anzahl der Tage, bis an drei aufeinanderfolgenden Tagen keine Morgensymptome mehr ausgelöst werden konnten.

    Die mittlere Dauer bis zum primären Endpunkt betrug in der SM-plus-Gruppe 2,0±1,6 Tage (median 1 Tag; Range 1-8) und in der EM-Gruppe 3,3±3,6 Tage (median 2; Range 1-20 Tage; p=0,01). In der EM-Gruppe berichteten 19 Betroffene (19,6 %) von Übelkeit während der Selbstmanöver; in der SM-plus-Gruppe 24 (24,5%). In keiner Gruppe gab es schwerwiegende unerwünschte Ereignisse. Für den sekundären Endpunkt (Wirkung des ersten ärztlich durchgeführten Manövers) wurde kein signifikanter Unterschied festgestellt. In der SM-plus-Gruppe waren danach 68,4% und in der EM-Gruppe 62,9% zunächst schwindelfrei. Am nächsten Morgen hatten von diesen zunächst beschwerdefreien Personen 25,4% (SM-plus) und 24,6% (EM) wieder einen pcBPPV.

    „Die relativ hohe Rezidivquote nach einmaliger ärztlicher Behandlung zeigt, dass es sinnvoll ist, den Betroffenen ein Selbstmanöver beizubringen“, konstatiert Prof. Strupp, Erstautor der Studie. „Nach unseren Studienergebnissen sollte sowohl für das erste ärztliche Manöver als auch für die Selbstmanöver das SM-plus verwendet werden, wenn medizinisch nichts dagegenspricht.“

    [1] Strupp M, Mandala M, Vinck AS et al. The Semont-Plus Maneuver or the Epley Maneuver in Posterior Canal Benign Paroxysmal Positional Vertigo: A Randomized Clinical Study. JAMA Neurol 2023 Jun 26. doi: 10.1001/jamaneurol.2023.1408. Online ahead of print. PMID: 37358870
    [2] Strupp M. Schwindel aus neurologischer Sicht. Vertigo and dizziness: the neurologist’s perspective. Der Ophthalmologe 2013; 110:7-15 https://link.springer.com/article/10.1007/s00347-012-2573-4
    [3] Obrist D, Nienhaus A, Zamaro E, Kalla R, Mantokoudis G, Strupp M. Determinants for a successful Sémont maneuver: an in vitro study with a semicircular canal model. Front Neurol 2016; 7:150
    [4] Strupp M, Goldschagg N, Vinck AS et al. BPPV: Comparison of the SémontPLUS With the Sémont maneuver: a prospective randomized trial. Front Neurol. 2021;12(65257):652573. doi:10.3389/ fneur.2021.652573



    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 11.500 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Daniela Berg
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Generalsekretär: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Original publication:

    doi: 10.1001/jamaneurol.2023.1408


    Images

    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine
    transregional, national
    Scientific Publications, Transfer of Science or Research
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).