In einer Studie, an der auch die Universität Passau beteiligt war, zeigt ein Ökonomen-Team, dass die Pandemie vor mehr als 100 Jahren in besonders betroffenen Gebieten zu einem Linksruck führte.
1918 breitete sich eine rätselhafte Krankheit aus. Sie begann mit Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, der Tod kam meist wenige Tage später. Da die Pandemie mit der entscheidenden Phase des Ersten Weltkriegs zusammenfiel, ergriff die Politik keine Maßnahmen aus Sorge um die Moral der Bevölkerung. Auch die Presse berichtete kaum; es herrschte Zensur. Nichtsdestotrotz war die Krankheit in der Öffentlichkeit präsent: Schätzungen zufolge starben an der Spanischen Grippe in Deutschland in wenigen Monaten mehr als 400 000 Menschen – vergleichbar mit Todesfällen durch den Ersten Weltkrieg in einem ganzen Kriegsjahr.
Ein Team von Ökonomen der Universitäten Passau, Köln und Rom sowie der Bundesärztekammer hat in einer Studie mit Hilfe moderner mikroökonometrischer Methoden historische Sterbedaten mit Wahldaten der Jahre 1893 bis 1933 aus allen deutschen Wahlbezirken abgeglichen. So konnten sie analysieren, wie sich die Pandemie auf die Wahlergebnisse ausgewirkt hat. Die Ergebnisse haben sie als unter anderem als CESifo Working Paper unter dem Titel „The Political Effects of the 1918 Influenza Pandemic in Weimar Germany“ veröffentlicht.
Die Erkenntnisse im Überblick:
• In Regionen, die von der Spanischen Grippe besonders betroffen waren, verbuchte der linksgerichtete Parteienblock einen Zuwachs von 8,1 Prozent im Vergleich zum Ergebnis bei den Wahlen vor Ausbruch der Pandemie.
• Im linksgerichteten Lager profitierte vor allem die SPD – und zwar nicht nur kurzfristig. Der Effekt blieb im Beobachtungszeitraum bis 1933 stabil. Extreme Parteien stärkte die Pandemie nicht.
• In einer Reihe von Tests schließen die Ökonomen aus, dass der Effekt der Spanischen Grippe mit dem Effekt anderer möglicher Ursachen wie Armut und Ungleichheit oder kriegsbedingte Entwicklungen verwechselt wird.
„Man könnte meinen, dass die Spanische Grippe als eine von vielen Faktoren zum Aufstieg der Nationalsozialisten beigetragen hat. Wir zeigen in unserem Paper, dass dem nicht so ist“, sagt Prof. Dr. Stefan Bauernschuster, Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics und Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Passau. „Die Pandemie hat nicht die extremen Parteien gestärkt, sondern die gemäßigte Linke, ganz konkret die SPD.“
Die Analysen der Ökonomen deuten darauf hin, dass mit der Pandemie Gesundheit ein wichtiges öffentliches Thema wurde und dass es der Sozialdemokratischen Partei gelang, dieses Thema zu besetzen – nicht erst mit dem Ausbruch der Spanischen Grippe. Die SPD hatte den Forschern zufolge bereits davor das Thema Gesundheit vor allem mit Bezug auf die Arbeiterschaft in ihre Wahlprogramme aufgenommen und war in den Selbstverwaltungsgremien der Krankenversicherungen stark vertreten.
Über das Autoren-Team
Die Idee zu dem Paper hatte Dr. Christoph König, Assistenzprofessor an der Universität Tor Vergata in Rom. Bei der Auswertung historischer Wahldaten fiel ihm im Jahr 1919 ein ungewöhnlicher Linksruck auf, den die Ökonomen nun in der vorliegenden Studie untersuchen. Prof. Dr. Bauernschuster, Professor für Public Economics an der Universität Passau, und Prof. Dr. Erik Hornung, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln, knüpfen an eine gemeinsame Studie an, in der sie auch mit historischen Sterbedaten arbeiteten, um die Wirkung der ersten allgemeinen Pflichtkrankenversicherung unter Bismarck zu untersuchen. Ebenfalls an der Studie beteiligt war Dr. Matthias Blum, Ökonom und Politikberater bei der Bundesärztekammer. Letzterer hatte historische Sterbedaten und Todesursachen zu 213 deutschen Städten zusammengetragen, die in die aktuelle Studie eingeflossen sind.
Die Studie ist als Working Paper beim Centre for Economic Policy Research (CEPR), bei CESifo, in der Reihe ECONtribute der Universitäten Bonn und Köln sowie in der Discussion Paper Series des IZA – Institute of Labor Economics erschienen.
Vier Fragen an die Autoren zur Vorgehensweise und den Erkenntnissen
Wie weisen Sie nach, dass die Spanische Grippe hinter der hohen Übersterblichkeit im Jahr 1918 steckt?
Auf Ebene der Wahlkreise gibt es zwar Sterbedaten, aber keine Angaben zu den Todesursachen. Deshalb versuchen wir mit ökonometrischen Methoden, die Übersterblichkeit der Spanischen Grippe vorherzusagen. In einem ersten Schritt verwenden wir dazu Sterbedaten der Jahre 1904 bis 1913 und berechnen auf dieser Basis wahlkreisspezifische Vorhersagen für die Sterblichkeit in den Jahren 1914 bis 1918. In all diesen Jahren finden wir eine höhere Sterblichkeit als ohne Krieg erwartbar gewesen wäre, wobei die Übersterblichkeit im Jahr 1918 aufgrund der Spanischen Grippe noch höher ist als in den anderen Kriegsjahren. In einem zweiten Schritt verwenden wir die Übersterblichkeit der Kriegsjahre 1914 bis 1917, um vorherzusagen, wie hoch die Übersterblichkeit 1918 ohne die Spanische Grippe gewesen wäre. Der Unterschied zwischen dem tatsächlichen Wert im Jahr 1918 und unserer Vorhersage könnte, wenn unsere Methode wie gewünscht funktioniert, die Übersterblichkeit durch die Spanische Grippe sein. Ob unsere Methode funktioniert, testen wir anschließend auf Regierungsbezirksebene, denn hier haben wir Daten zu den Todesursachen. Und in der Tat: Es klappt. Wir sehen, dass unser Maß für Übersterblichkeit durch die Spanische Grippe mit jedem ärztlich identifizierten Influenzatoten um genau eins zunimmt. Auf Kriegstote hingegen reagiert unser Maß nicht. Wir können also die Toten der Spanischen Grippe in den Wahlkreisen identifizieren, obwohl wir auf dieser Ebene eigentlich keine Daten dazu haben.
Das erklärt aber noch nicht den Linksruck, oder?
Nein, noch nicht. Um diesen Beweis zu führen, vergleichen wir nun die Entwicklung des Wahlverhaltens in besonders betroffenen Regionen, mit jenen, in denen es weniger Grippetote gab, im Zeitraum von 1893 bis 1939 in einem dynamischen Differenz-in-Differenzenmodell. Dieses Modell erlaubt uns, konstante regionale Unterschiede sowie generelle Zeiteffekte, die für alle Regionen galten, herauszurechnen.
Nun gab es natürlich von der letzten Reichstagswahl vor Ausbruch der Spanischen Grippe im Deutschen Kaiserreich 1912 bis zur ersten Wahl danach im Jahr 1919 in der Weimarer Republik gravierende Änderungen im politischen System. Dazu zählten etwa die Umstellung von Mehrheits- auf Verhältniswahlrecht, die Herabsetzung des Wahlalters, Veränderungen in der Parteienlandschaft und die Einführung des Frauenwahlrechts. Damit wir die Ergebnisse dennoch vergleichen können, arbeiten wir mit den Wahlkreisgrenzen aus dem Kaiserreich, fassen die Parteien zu drei größeren Gruppen zusammen, den linksgerichteten Block, den der Mitte und den rechtsgerichteten, und kontrollieren für wahlkreisspezifische Veränderungen der Wahlberechtigten.
Die Ergebnisse zeigen, dass Wahlkreise mit höherer und Wahlkreise mit niedrigerer Influenzasterblichkeit im kompletten Zeitraum vor der Pandemie, also von 1893 bis 1912, der letzten Wahl vor der Spanischen Grippe, einem sehr ähnlichen Trend folgen. Erst nach der Spanischen Grippe beobachten wir in den Wahlkreisen mit höherer Influenzasterblichkeit einen deutlichen Anstieg der Stimmenanteile für den linksgerichteten Block im Vergleich zu Wahlkreisen mit niedrigerer Influenzasterblichkeit. Erhöht sich die Zahl der Influenzatoten um 2 pro 1.000 Einwohner, was einem Anstieg von circa 30 Prozent der durchschnittlichen Influenzasterblichkeit entspricht, so steigt der Stimmenanteil um 8,1 Prozent im Vergleich zu 1912. Dieser Effekt bleibt stabil bis zum Jahr 1933. Der rechtsgerichtete Block hingegen verliert.
Kommen andere Gründe in Frage?
Darum geht es im Großteil unseres Papers: Wir überprüfen, wie robust, wie stichhaltig unsere These ist, indem wir andere Gründe ausschließen, die womöglich auch hinter diesem Linksruck stecken könnten. Weitere Gründe für den Linksruck könnten etwa verstärkte Armut oder Ungleichheit in den Weltkriegsjahren sein. Wir berechnen anhand von Daten zu Vermögen und Einkommen Gini-Koeffizienten, ein statistisches Maß für Ungleichverteilungen, und verwenden Daten zum Anteil der Armen. Die Aufnahme dieser Kontrollvariablen in unser Modell verändert den Effekt der Spanischen Grippe jedoch nicht. Wir überprüfen zudem die Entwicklung der Kindersterblichkeit in den betroffenen Gebieten, da diese in der Gesundheitsökonomik ebenfalls als wichtiger Indikator für prekäre Lebensverhältnisse wie etwa Nahrungsknappheit gilt. Es ist jedoch nicht der Fall, dass die Kindersterblichkeit in Wahlkreisen mit höherer Influenzasterblichkeit vor 1918 anders verläuft als in Wahlkreisen mit niedrigerer Influenzasterblichkeit. Daten für die Todesursachen auf Stadtebene zeigen zudem, dass unsere Effekte tatsächlich durch Sterblichkeit aufgrund von Atemwegserkrankungen getrieben werden, also genau durch die Todeskategorie, in der Grippetote aufgenommen werden. Darüber hinaus finden wir weder für die Übersterblichkeit in den Kriegsjahren vor 1918 noch für jene im Jahr 1918, die nicht durch die Spanische Grippe erklärt wird, auch nur annähernd ähnliche Effekte. Wir kommen also zu dem Schluss, dass dieser Linksruck wirklich speziell durch die Spanische Grippe getrieben ist.
Warum dieser Linksruck?
Die Politikwissenschaft erklärt Wahlverhalten oft damit, dass Wählerinnen und Wähler Politikerinnen und Politiker für gute Politik belohnen oder für schlechte Politik bestrafen. Aber in unserer Konstellation trifft das nicht zu; unsere Daten zeigen, dass die Gewinner der vergangenen Wahl(en) in einem Wahlbezirk durch die Spanische Grippe weder systematisch mehr, noch systematisch weniger Stimmen auf sich vereinen können. Eine andere Möglichkeit wäre eine Protestwahl, die die extremistischen Parteien stärkt. Aber auch das sehen wir nicht. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine verstärkte Spaltung in den betroffenen Gebieten. Unsere Auswertung, in der wir den linken Block aufschlüsseln, zeigt vielmehr, dass mit der SPD die gemäßigte Linke gewinnt. Die kommunistische Partei verliert sogar.
Die plausibelste Erklärung für unsere Ergebnisse liefert die „Issue-Ownership“-Theorie aus der Politikwissenschaft. Diese besagt, dass Parteien, die ein Thema besetzen und darin glaubhaft Expertise signalisieren, Stimmengewinne verzeichnen, sobald dieses Thema für die Bevölkerung wichtiger wird. Der SPD ist es gelungen, Gesundheit als öffentliches Thema zu etablieren und zu besetzen – und zwar nicht erst mit dem Ausbruch der Spanischen Grippe. Die SPD hatte im Gegensatz zu anderen Parteien das Thema Gesundheit mit Fokus auf die Arbeiterschaft bereits davor in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Auch bei den Selbstverwaltungsgremien der Krankenversicherungen war sie stark vertreten. Dabei hatte die SPD die durch Bismarck im Jahr 1884 eingeführte Pflichtkrankenversicherung ursprünglich scharf als Bestechungsversuch der Arbeiterschaft kritisiert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es der SPD jedoch im Anschluss gelang, die Lorbeeren für diese revolutionäre sozialpolitische Maßnahme einzuheimsen. Noch einen weiteren Beleg können wir für die „Issue-Ownership“-Theorie anführen: Unsere Analysen zeigen, dass auch die Liberalen politisches Kapital aus der Pandemie schlagen konnten - und damit genau die Partei, der viele Ärzte angehörten und die die Sozialhygienebewegung unterstützt hatte.
Prof. Dr. Stefan Bauernschuster
Universität Passau
Lehrstuhl für Public Economics
Innstraße 27, 94032 Passau
E-Mail: stefan.bauernschuster@uni-passsau.de
https://cepr.org/publications/dp18277
https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2023/studie-zur-spanischen-grippe Beitrag des Ökonomen-Teams im Digitalen Forschungsmagazin
Prof. Dr. Stefan Bauernschuster, Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics an der Universität Pass ...
Universität Passau
Universität Passau
Die Grafik zeigt das Wahlverhalten bezogen auf den linksgerichteten Parteienblock in Wahlkreisen, di ...
Stefan Bauernschuster
Universität Passau
Criteria of this press release:
Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
Economics / business administration, History / archaeology, Social studies
transregional, national
Research results
German
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