Forschungsteam des Kieler SFB 1182, vom Helmholtz Zentrum München und der University of Southern California weist nach, dass sich eine geänderte Flüssigkeitsdynamik im Darm auf die Mikrobenbesiedlung auswirkt
Spontane rhythmische Kontraktionen des Verdauungstrakts, auch als Peristaltik bezeichnet, spielen bei den allermeisten Lebewesen eine wichtige Rolle, um eine gesunde Darmfunktion zu ermöglichen. Diese intrinsische Aktivität scheint für das Leben und die Gesundheit vieler Lebewesen unerlässlich zu sein, vermuten Forschende. Sie wird durch rhythmische elektrische Impulse verursacht, die von sogenannten Schrittmacherzellen des Nervensystems erzeugt werden. Beim Menschen kann eine Störung dieses Kontraktionsmusters zu Magen-Darm-Erkrankungen führen, die auch mit einer gestörten Zusammensetzung der mikrobiellen Besiedlung des Darms, auch Mikrobiom genannt, im Zusammenhang stehen. Bislang war unklar, warum sich diese spontanen Kontraktionen entwickelt haben und ob sie mit dem Mikrobiom zusammenhängen.
Ein Forschungsteam um Professor Thomas Bosch aus der Zell- und Entwicklungsbiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnte in einer vorangegangen Forschungsarbeit bereits belegen, dass das Darmmikrobiom das Nervensystem bei der Steuerung der Peristaltik unterstützt. Das Forschungsteam aus dem CAU-Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ hat nun in einer neuen Studie mit Kolleginnen vom Helmholtz Pioneer Campus München und von der University of Southern California (USC) die Perspektive gewechselt und untersucht, ob die Kontraktionen ihrerseits die Zusammensetzung des Darmmikrobioms beeinflussen können. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie kürzlich in der Fachzeitschrift eLife.
Darin arbeiteten die Kieler Forschenden eng mit der Mechanobiologin Dr. Janna Nawroth und der Mathematikerin Professorin Eva Kanso zusammen, die die Strömungsphysik lebender Systeme untersuchen. Gemeinsam kamen sie zu der Vermutung, dass die Häufigkeit der Kontraktionen die flüssige Mikroumgebung nahe der Gewebeoberfläche beeinflussen, in der die Mikroben im Darm oder auf anderen Oberflächen leben. Die Veränderung dieser Grenzschicht könne das Wachstum und die Zusammensetzung der Mikroben regulieren, nahmen die Forschenden an. Um die dort ablaufenden Mechanismen zu untersuchen, verwendete das Kieler Forschungsteam ein einfaches Modellsystem, den Süßwasserpolypen Hydra. Hydra hat nicht nur ein gut definiertes Mikrobiom auf seiner Körperwand, dessen Häufigkeit und räumliche Verteilung experimentell überwacht werden kann, sondern zeigt auch die charakteristischen spontanen Kontraktionen der Körperwand, deren Funktion bislang unbekannt war.
Durch die Kombination von Mikrobiomanalysen, in-vivo-Strömungsanalysen und mathematischer Modellierung konnten sie beobachten, dass sich die spontanen rhythmischen Kontraktionen des Körperwand tatsächlich auf die Mikrobiom-Zusammensetzung auswirken: Eine experimentelle Verringerung der Kontraktionshäufigkeit bewirkte eine Veränderung der mikrobiellen Artenzusammensetzung auf der Körperwand.
Fließbewegungen im Darm modelliert
Die Darmwände von Säugetieren stehen mit dem flüssigen Darminhalt im Kontakt. Zwischen Darmwand und -inhalt liegt eine zähflüssige Grenzschicht, die in Abhängigkeit von der Fließgeschwindigkeit mehr oder weniger stark an der Darmwand haftet und den Stoffaustausch beeinflusst. Die Grenzschicht bedingt, dass an der Oberfläche der Darmwand der Stoffaustausch fast ausschließlich per Diffusion stattfindet. Nährstoffe und andere chemische Verbindungen werden daher passiv zur Oberfläche hin und von ihr weg transportiert. Das Forschungsteam hat die Dynamik der Fließbewegungen an dieser Grenzschicht simuliert, um die Auswirkungen der Darmkontraktionen theoretisch nachvollziehen zu können.
„Dazu haben wir erstmals in der Mikrobiomforschung Methoden aus der Physik angewendet und theoretische Modelle entwickelt, die das Fließverhalten der Darmwand vorhersagen können“, erklärt Dr. Janna Nawroth vom Helmholtz Pioneer Campus. „Diese Modellierungen zeigten, dass sich die Fließgeschwindigkeit während der Kontraktionen stark erhöht und dadurch die Haftung der Grenzschicht geringer wird. Infolge der schnellen laminaren Strömung schüttelt die Darmwand die viskose Grenzschicht in regelmäßigen Abständen ab, bevor diese sich nach einiger Zeit erneut aufbauen kann“, so Nawroth weiter. Dies liefere Hinweise darauf, dass spontane Kontraktionen der Körperwände den Transport chemischer Verbindungen von und zur Gewebeoberfläche verbessern.
Beobachtungen am Modellorganismus bestätigten Theorie
Um zu überprüfen, ob und wie sich die Durchmischung und Erneuerung dieser Grenzschicht infolge der Kontraktionen auf das Mikrobiom auswirkt, haben die Forschenden den Mechanismus am Beispiel der Hydra im lebenden Organismus untersucht. Die einfach aufgebauten Nesseltiere vollziehen Kontraktionen der gesamten Körperhöhle, die funktionell mit den Darmkontraktionen komplexerer Lebewesen vergleichbar sind. Christoph Giez, Doktorand in Boschs Arbeitsgruppe, führte dazu eine Reihe von Experimenten durch: Er verlangsamte das Kontraktionsmuster des Süßwasserpolypen experimentell und senkte unter anderem durch Eingriffe in den Tag- und Nacht-Rhythmus der Tiere oder chemische Signale die Häufigkeit der Kontraktionen immer weiter ab. Die Hydren wurden für jeweils 48 Stunden diesen verschiedenen Regimes ausgesetzt.
Anschließend sequenzierte das Forschungsteam die Erbinformationen der mikrobiellen Arten des Mikrobioms, um Veränderungen der Zusammensetzung erkennen zu können. „Wir haben beobachtet, dass eine geringere Kontraktionsrate und die dadurch seltenere Erneuerung der Grenzschicht deutliche Auswirkungen auf die Mikrobenbesiedlung zeigte“, fasst Giez zusammen. „Die Verlangsamung der Kontraktionen begünstigte Mikroorganismen, die in einer statischeren Umgebung besser gedeihen. Bakterienarten, die eigentlich im kaum beweglichen Fuß der Polypen vorkommen, siedelten sich nun im gesamten Körper der Tiere an“, so SFB 1182-Mitglied Giez weiter. Der geringere Stoffaustausch in der Grenzschicht sorge also dafür, so vermuten die Forschenden, dass sich das Mikrobiom im gesamten Organismus an die Artenzusammensetzung der statischeren Fußregion angleiche.
Darmbeweglichkeit wichtiger Faktor für die Gesundheit
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten so theoretisch und funktionell nachweisen, dass eine Verringerung der Häufigkeit spontaner Kontraktionen der Körperwand die Strömungsverhältnisse nahe der Gewebeoberfläche verändert und dadurch die Zusammensetzung des Mikrobioms modifiziert. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Peristaltik eine notwendige Voraussetzung für den regelmäßigen Austausch essenzieller Stoffe an der Darmoberfläche darstellt“, fasst Bosch zusammen. „Auf diesem Weg hilft sie wahrscheinlich dabei, das Mikrobiom in einer Balance zu halten und so das Zusammenwirken von Wirtslebewesen und Mikroben insgesamt zu formen und zu stabilisieren“, so der SFB 1182-Sprecher weiter.
Die neuen Forschungsergebnisse zeigen damit, wie wichtig die Darmkontraktionen für ein stabiles Mikrobiom sind und eröffnen neue Perspektiven für die weitere Erforschung der Peristaltik im Zusammenhang mit der Krankheitsentstehung. „Wir konnten erstmals einen funktionellen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Darmbewegungen und einem gestörtem Mikrobiom belegen. In Zukunft wollen wir diesen Mechanismus auch auf der metabolischen Ebene untersuchen, um damit zusammenhängende mögliche Krankheitsursachen besser zu verstehen“, blickt Bosch voraus.
Fotos stehen zum Download bereit:
https://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2020/180-deines-mbio-hydra.jpg
Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra hat das Forschungsteam untersucht, wie sich Darmkontraktionen auf die Dynamik der Fließbewegungen an der Grenzschicht der Körperwand auswirken.
© Dr. Alexander Klimovich
https://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2023/198-nawroth-giez-elife-sheddi...
Bildunterschrift: Die Fließgeschwindigkeit erhöht sich infolge der Kontraktionen stark, so dass die Darmwand die viskose Grenzschicht (FBL) in regelmäßigen Abständen abschüttelt.
© Dr. Janna Nawroth
https://www.uni-kiel.de/fileadmin/user_upload/old_news_images/2017/2017-368-1.gi...
Bildunterschrift: Das Forschungsteam konnte einen Zusammenhang zwischen den charakteristischen spontanen Kontraktionen der Körperwand und der Zusammensetzung ihrer Mikrobenbesiedlung nachweisen.
© Dr. Alexander Klimovich
Weitere Informationen:
Zell- und Entwicklungsbiologie (AG Bosch), Zoologisches Institut, CAU:
https://www.bosch.zoologie.uni-kiel.de
SFB 1182 “Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen”, CAU:
https://www.metaorganism-research.com
Bioinspired Motion Lab, Department of Aerospace and Mechanical Engineering
University of Southern California
https://sites.usc.edu/kansolab/
Mechanobiology Lab, Helmholtz Pioneer Campus, Helmholtz München:
https://www.pioneercampus.org/themenmenue-links/about-us0/principal-investigator...
Prof. Thomas Bosch,
Sprecher SFB 1182
„Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“, CAU
Tel.: 0431-880-4170
E-Mail: tbosch@zoologie.uni-kiel.de
Janna C. Nawroth, Christoph Giez, Alexander Klimovich, Eva A. Kanso, Thomas C.G. Bosch (2023): Spontaneous body wall contractions stabilize the fluid microenvironment that shapes host-microbe associations eLife First published: 03. July 2023
https://doi.org/10.7554/eLife.83637
https://www.bosch.zoologie.uni-kiel.de
https://www.metaorganism-research.com
https://sites.usc.edu/kansolab/
https://www.pioneercampus.org/themenmenue-links/about-us0/principal-investigator...
Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra hat das Forschungsteam untersucht, wie sich Darmkontraktionen ...
© Dr. Alexander Klimovich
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Criteria of this press release:
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Am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra hat das Forschungsteam untersucht, wie sich Darmkontraktionen ...
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