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08/10/2023 11:00

Individualisierte, kognitive Verhaltenstherapie statt Opioide bei Rückenschmerzen

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Rückenschmerzen sind ein Volksleiden, das in der Mehrzahl der Fälle weder mit Schmerzmitteln noch Operationen dauerhaft in den Griff zu bekommen ist. Zwei jüngst in der Zeitschrift „Lancet“ publizierte Studien zeigen, dass bei akuten Rückenschmerzen Opioid-haltige Schmerzmittel keine stärkere Wirkung haben als Placebo [1] und dass bei chronischen Rückenschmerzen eine individualisierte, kognitive Verhaltenstherapie [2] wesentlich wirksamer, anhaltender und kostengünstiger ist als eine Standardtherapie.

    Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden, die Menschen in eine Arztpraxis führen, und sie sind einer der häufigsten Gründe für Krankschreibungen oder Frühverrentung in Deutschland. Rückenschmerzen lassen sich einteilen in akute (unter zwölf Wochen andauernde) oder chronische Beschwerden sowie anhand der Lokalisation in obere Rücken- und Nackenbeschwerden und in untere Rücken- bzw. Kreuzschmerzen. Diagnostisch wird zunächst versucht, konkrete Ursachen zu finden, insbesondere, um ernsthafte Erkrankungen auszuschließen. Frakturen, Entzündungen, Nervenwurzelschäden oder Tumoren müssen immer ausgeschlossen werden, z.B. wenn die Schmerzen ganz plötzlich auftreten, bei einem Sturz oder Unfall oder bei zusätzlichen Symptomen wie Sensibilitätsstörungen (Taubheit oder Kribbeln), Muskelschwäche, Probleme mit der Blasen- oder Darmfunktion sowie Fieber, Schüttelfrost oder Übelkeit/Erbrechen.

    Wenn keine Ursache ausgemacht werden kann, wird von unspezifischen Rückenschmerzen gesprochen. Therapeutisch kommen dann Wärme, Schmerzmittel und Physiotherapie in Betracht. Die vorübergehende Gabe von Schmerzmitteln bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen ist oft sehr hilfreich; meist reichen hier die klassischen Präparate wie Ibuprofen oder Diclofenac aus. Nicht selten werden bei sehr starken Schmerzen auch Opioid-Analgetika eingesetzt, wobei es hier insgesamt bisher wenige Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit gab.

    Die nun publizierte randomisierte, placebokontrollierte OPAL-Studie aus Australien [1] war die erste placebokontrollierte Studie mit einem Opioid ohne zusätzliche Gabe eines weiteren Schmerzmittels bei akuten Schmerzen im unteren Rücken oder Nackenbereich. 347 Erwachsene (≥ 18 Jahren, 49% weiblich), die seit maximal 12 Wochen unter mäßigen bis starken Rücken- und/oder Nackenschmerzen litten, wurden verblindet nach Zufallsprinzip einer Opioid-Behandlung (n=174; Oxycodon-Naloxon, bis zu 20 mg Oxycodon pro Tag oral) oder Placebogruppe (n=173) zugeteilt. Primärer Endpunkt war die Schmerzstärke nach sechs Wochen, gemessen mit einer 10-Punkte-Schmerz-Skala (BPI-PS/„Brief Pain Inventory“). Abschließend konnten in der Opioidgruppe 151 und in der Placebogruppe 159 Personen ausgewertet werden. Der mittlere BPI-PS-Schmerzwert nach sechs Wochen betrug in der Opioidgruppe 2,78 (initial 5,7) gegenüber 2,25 (initial 5,6) in der Placebogruppe (Unterschied nicht signifikant, p=0,051). Unerwünschte Ereignisse traten in den beiden Gruppen nicht signifikant unterschiedlich auf (35% mit Opioid und 30% mit Placebo; p=0,30), jedoch berichteten doppelt so viele Menschen in der Opioidgruppe über eine Verstopfung (7,5% gegenüber 3,5% in der Placebogruppe). Das Autorenteam schlussfolgert, dass Opioide bei akuten, unspezifischen Rückenschmerzen nicht besser wirksam sind als Placebo und daher nicht zu empfehlen sind. Sie fordert daher, vom – zumindest in Australien (wie auch den USA), in Deutschland ist man zumeist etwas vorsichtiger bei der Verschreibung von Opioiden – häufigen Einsatz von Opioiden bei diesen Indikationen abzusehen.

    Eine weitere Studie, die „RESTORE-Studie“ [2], ebenfalls aus Australien, untersuchte randomisiert kontrolliert bei chronischen Schmerzen im unteren Rückenbereich die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie (CFT) im Hinblick auf Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. CFT ist ein individualisierter Ansatz, der schmerzbezogene Empfindungen (Angst und „Schmerzüberzeugungen“) sowie Verhaltensweisen ändern soll, wie z.B. Schonhaltung oder Bewegungsvermeidung, die den Schmerz sogar verstärken statt verbessern können. Insgesamt 492 Erwachsene (≥ 18 Jahre, mittleres Alter ca. 47 Jahre, ca. 60% Frauen), die seit über 3 Monaten an unteren Rückenschmerzen mit mäßiggradigen Bewegungseinschränkungen litten, wurden randomisiert zu gleichen Teilen in drei Gruppen eingeteilt. Sie erhielten über einen Zeitraum von 12 Wochen entweder bis zu sieben CFT-Behandlungssitzungen (sowie eine weitere Sitzung nach 26 Wochen; n=164) oder CFT plus Biofeedback (Bewegungssensoren zur Verstärkung der CFT-Effekte; n=163) oder eine Standardbehandlung (Kontrollgruppe n=165; z.B. Physiotherapie, Massage, Chiropraktik, Schmerzmittel, Injektionen oder chirurgische Eingriffe). Der primäre klinische Endpunkt war die Aktivitätseinschränkung nach 13 Wochen, welche anhand des 24-Punkte-Fragebogens RMDQ ermittelt wurde („Roland Morris Disability Questionnaire“; mehr Punkte bedeutet ein schlechteres Ergebnis). Initial betrug der mittlere RMDQ-Score in der CFT-Gruppe 13,3; in der „CFTplus“-Gruppe 14,0 und in der Kontrollgruppe 13,3. Der primäre gesundheitsökonomische Endpunkt wurde mittels sogenannter QALYs („quality-adjusted life years“) erfasst. Im Ergebnis war die kognitive Funktionstherapie wirksamer als die Standardbehandlung; das Biofeedback zeigte dabei keinen Zusatznutzen. In den drei Gruppen betrugen die RMDQ-Scores nach 13 Wochen 7,5 (CFT sowie CFTplus) und 12,1 bei den Kontrollen (mittlere RMDQ-Differenz zur Kontrollgruppe für beide CFT-Gruppen -4,6). Auch nach 52 Wochen war der Effekt noch immer ähnlich gut (RMDQ-Scores 6,7 und 6,1 versus 11,5). Auch wirtschaftlich (QALYs und Fallkosten) schnitten die Interventionen besser ab.

    „Beide Studien zeigen interessante Ergebnisse, insbesondere, dass starke Schmerzmittel bei Rückenschmerzen als Standardbehandlung kaum zielführend sind“, kommentiert DGN-Experte Prof. Hans-Christoph Diener, Essen. „In der Mehrzahl der Fälle ist auch die Operation keine dauerhafte Lösung; vor allem, da häufig muskuläre bzw. myofasziale Schmerzkomponenten vorhanden sind. Die Bedeutung der funktionellen Aspekte der Rückengesundheit, d.h. richtige Bewegungen bzw. veränderte Bewegungsmuster anstatt Vermeidungsverhalten und sportliche Aktivitäten im Rahmen von Therapie und Prävention kann daher gar nicht oft genug betont werden.“

    [1] Jones CMP, Day RO, Koes BW et al. Opioid analgesia for acute low back pain and neck pain (the OPAL trial): a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2023 Jul 22; 402 (10398): 304-312 doi: 10.1016/S0140-6736(23)00404-X. Epub 2023 Jun 28.

    [2] Kent P, Haines T, O'Sullivan P et al. Cognitive functional therapy with or without movement sensor biofeedback versus usual care for chronic, disabling low back pain (RESTORE): a randomised, controlled, three-arm, parallel group, phase 3, clinical trial. Lancet 2023 Jun 3; 401 (10391): 1866-1877 doi: 10.1016/S0140-6736(23)00441-5. Epub 2023 May 2.

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o Dr. Bettina Albers, albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Peter Berlit
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 11.500 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Lars Timmermann
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    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
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    Geschäftsführer: David Friedrich-Schmidt
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Original publication:

    doi: 10.1016/S0140-6736(23)00404-X
    doi: 10.1016/S0140-6736(23)00441-5


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
    transregional, national
    Scientific Publications, Transfer of Science or Research
    German


     

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