idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
04/26/2024 07:36

Sichere Alternative für explosive Reaktion

Sarah-Lena Gombert Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

    Seit über 100 Jahren nutzt die chemische Industrie eine Reaktion mit explosiven Chemikalien – nun haben Mülheimer Wissenschaftler eine sicherere Alternative entdeckt. Ein Team um Prof. Dr. Tobias Ritter, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, hat seine Arbeit in der Zeitschrift „Science“ veröffentlicht.

    Explosionen und Vergiftungen. Schwere Verletzungen und sogar Todesfälle. In der Geschichte der Chemieindustrie kam es immer wieder zu schlimmen Unfällen mit teils tragischem Ausgang. Ursache dafür waren oftmals gefährliche und explosive Chemikalien die für bestimmte Reaktionen benötigt werden.

    Aryldiazoniumsalze, die seit 140 Jahren genutzt werden, sind solche Chemikalien. Sie sind sehr reaktiv und dadurch für die Herstellung anderer Verbindungen äußerst nützlich – Farbstoffe zum Beispiel. Die hohe Reaktivität hat allerdings zur Folge, dass isolierte Aryldiazoniumsalze nicht sehr stabil sind und daher auch ungewollt und teilweise explosionsartig reagieren können. So kam es am 23. Dezember im Jahre 1969 bei der Firma Ciba AG in Basel zu einer besonders schweren Explosion mit diesen Chemikalien. Ein Gebäude wurde zerstört, schwere Metallteile des Reaktors flogen meterweit durch die Luft. Drei Arbeiter verloren damals ihr Leben, 31 wurden schwer verletzt. Trotz solcher Schreckensmeldungen wird weiterhin mit Aryldiazoniumsalzen gearbeitet.

    Einem Team um Prof. Dr. Tobias Ritter, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, ist es nun gelungen, die risikobehaftete Chemie mit Aryldiazoniumsalzen deutlich sicherer zu machen. Das Mülheimer Protokoll macht die Nutzung dieser Verbindungen aber nicht nur weniger gefährlich, sondern eröffnet potentiell auch Möglichkeiten für die Entwicklung ganz neuer Reaktionen.

    „Normalerweise erfolgt die Nutzung von Diazoniumsalzen in zwei Schritten, man isoliert oder akkumuliert erst das Diazoniumsalz, was gefährlich ist, und setzt es dann in einem zweiten Schritt zu seinem gewünschten Produkt um. In unserem Projekt kombinieren wir die beiden Syntheseschritte und gehen zum gewünschten Produkt ohne das Diazoniumsalz zu akkumulieren, was das Risiko einer Explosion deutlich reduziert“, erklärt Tim Schulte, Doktorand aus der Gruppe von Tobias Ritter.

    Traditionell werden Aryldiazoniumsalze aus Anilinen mit salpetriger Säure, oder mit Nitrit-Verbindungen synthetisiert, eine Reaktion, die im Laufe der Jahre wenig Innovation erfahren hat. Die Reaktion muss bei niedrigen Temperaturen (unter 5 °C) durchgeführt werden, da die Aryldiazoniumsalze bei höheren Temperaturen instabil sind. Javier Mateos, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe und Tim Schulte haben jedoch eine neue Methode vorgestellt, die das Vorhandensein verschiedener Nukleophile in der Reaktionsmischung ermöglicht.

    Die neue Strategie basiert auf der Nutzung eines natürlichen Prozesses, der Nitratreduktion, welcher in Pflanzen für den Stoffwechsel von Enzymen durchgeführt wird. Den Forschern ist es gelungen, den natürlichen Prozess im Reagenzglas zu kopieren und mit Aryldiazoniumchemie zu kombinieren, um so eine sicherere Synthesemethode zu entwickeln. Die Mülheimer überwinden so die oben genannten Einschränkungen, die mit traditionellen Methoden verbunden sind, wie z. B. die Temperaturempfindlichkeit und die Notwendigkeit von starken Säuren.

    Dadurch, dass die und Forscher in ihrem neuen Protokoll mehrere Schritte kombinieren, kommt es erst gar nicht zu größeren Konzentrationen der gefährlichen Substanz. Und nicht nur das haben die Wissenschaftler aus Mülheim entdeckt: „Wir nutzen für unsere Synthesemethode Chemikalien, die in großen Mengen in der Düngemittel- und Kraftstoffindustrie verwendet werden und damit günstig zu bekommen sind“, sagt Tim Schulte. Das könnte den Syntheseweg für Unternehmen der Chemieindustrie überaus interessant machen, da es niedrigere Produktionskosten bedeutet.

    „Die Lösung für das Problem hätte eigentlich schon vor 100 Jahren gefunden werden können, allerdings würde man die Reaktion, so wie sie jetzt entdeckt wurde, wohl eher nicht planen“ sagt Tobias Ritter. „Die Kombination an Chemikalien, welche im Endeffekt gute Ergebnisse liefert, wurde durch Zufall entdeckt, während wir an einem anderen Projekt gearbeitet haben“, verrät Javier Mateos. Die eingesetzten Reagenzien sind zwar schon seit langer Zeit bekannt, allerdings hatte man ihr Potenzial für Diazoniumchemie bis jetzt schlichtweg übersehen. In der Forschung spricht man in solchen Fällen von „serendipity“, also eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem.

    Wissenschaftlich spannend sei die neue Methode auch deswegen, weil man jetzt ganz neue chemische Ansätze verfolgen könne. Das, so Tim Schulte, sei mit der klassischen Methode aufgrund der hohen Explosionsgefahr und Instabilität der Verbindungen gar nicht möglich gewesen.

    Die Originalpublikation „Nitrate reduction enables safer aryldiazonium chemistry“ ist in der Zeitschrift Science erschienen.


    Contact for scientific information:

    Prof. Dr. Tobias Ritter
    +49 (0)208/ 306 2414
    +49 (0)208/ 306 2972
    ritter@kofo.mpg.de


    Original publication:

    https://www.science.org/doi/10.1126/science.adn7006


    Images

    Javier Mateos (von links), Tim Schulte und Tobias Ritter diskutieren ihre Ergebnisse im Labor.
    Javier Mateos (von links), Tim Schulte und Tobias Ritter diskutieren ihre Ergebnisse im Labor.
    Sarah Gombert
    Max-Planck-Institut für Kohlenforschung


    Criteria of this press release:
    Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students
    Chemistry, Economics / business administration, Materials sciences
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Javier Mateos (von links), Tim Schulte und Tobias Ritter diskutieren ihre Ergebnisse im Labor.


    For download

    x

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).