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07/19/2004 13:36

RUB-Studie "Lesen und Medienkonsum": Wie Jugendliche den Deutschunterricht verarbeiten

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    PISA hält es uns vor Augen: Die Fähigkeit, Texte zu lesen und zu verarbeiten lässt bei deutschen Jugendlichen sehr zu wünschen übrig. Aber statt sich in Kulturpessimismus zu verlieren, entwarfen Prof. Dr. Gerhard Rupp, Dr. Petra Heyer und Helge Bonholt vom Germanistischen Institut der RUB neue produktionsorientierte Konzepte für den Deutschunterricht, die einem unkritischen Lese- und Medienkonsum entgegenwirken sollen. Die Ergebnisse ihrer Schülerbefragungen und Unterrichtsanalysen veröffentlichten sie in ihrem Buch "Lesen und Medienkonsum: Wie Jugendliche den Deutschunterricht verarbeiten".

    Bochum, 19.07.2004
    Nr. 228

    "...dann braucht man auch kein Buch zu lesen!"
    Wenn Schüler ihr kulturelles Gedächtnis verlieren
    Neues Unterrichtskonzept zu "Lesen und Medienkonsum"

    PISA hält es uns vor Augen: Die Fähigkeit, Texte zu lesen und zu verarbeiten lässt bei deutschen Jugendlichen sehr zu wünschen übrig. Aber statt sich in Kulturpessimismus zu verlieren, entwarfen Prof. Dr. Gerhard Rupp, Dr. Petra Heyer und Helge Bonholt vom Germanistischen Institut der RUB neue produktionsorientierte Konzepte für den Deutschunterricht, die einem unkritischen Lese- und Medienkonsum von Schülerinnen und Schülern entgegenwirken sollen. Die Ergebnisse ihrer Schülerbefragungen und Unterrichtsanalysen - etwa, dass es grundsätzlich vier verschiedene "Mediennutzungstypen" gibt - veröffentlichten sie in ihrem Buch "Lesen und Medienkonsum: Wie Jugendliche den Deutschunterricht verarbeiten".

    Verdrängt der Fernseher das Buch?

    Die traditionelle Bedeutung des Lesens wird mehr und mehr von den audio-visuellen Medien überlagert - Fernsehen, Internet und Computerspiele drängen das private literarische Lesen vieler Schüler mehr und mehr zurück. Dieser Medienwandel, der sich seit den 1990er Jahren vollzieht, führt zu einer allgemeinen Lese-Unlust und wirkt sich auch darauf aus, wie Schüler Texte und Filme im Deutschunterricht verarbeiten. Die etwa 70 Gesamtschüler und Gymnasiasten selbst lieferten den Forschern die Grundlagen für ihre Untersuchung: in Interviews sprachen sie über die Rolle des Lesens und Fernsehens in ihrem Alltag, über die Lesegewohnheiten ihrer Eltern oder auch darüber, ob sie als Kind mit Gutenachtgeschichten in den Schlaf gelesen wurden - kurz: über ihre Mediensozialisation. Mit diesen Informationen im Hinterkopf suchten die Forscher in mehr als 250 Gedichten, Fortsetzungstexten und Kurzfilmen, die von den Schülern im Deutschunterricht selbst produziert wurden, nach Literatur- und Medienspuren, die auf eine Wechselwirkung zwischen Literatur und Medienkonsum hinweisen. Auch eigene biografische Entwürfe spürten die Forscher auf.

    Die Medien hinterlassen ihre Spuren

    Im Deutschunterricht tragen Schüler ihre "Begegnungen" mit den Medien in ihre Produktionen hinein und integrieren sogar Teile davon in ihr Leben. Wenn die Schüler etwa in einer Videoproduktion einen Anti-Star entwickeln, der sich als Parodie auf den realen Starrummel der Medien entpuppt, dann zeigt sich darin nicht nur ihr Weltbild, sondern auch ihr Selbstbild: Mit welchem Seifenopern-Star identifizieren sie sich? Empfinden sie einen Mainstream-Popstar womöglich als typenhaft und zum Schreien komisch? Welches Buch hat sie so stark beeindruckt, dass sie eine fremde Erfahrung für sich nutzen und danach handeln? Welchen Einfluss auf ihre Wirklichkeitswahrnehmung hat der Stellenwert, den die Schüler den verschiedenen Mediensorten einräumen?

    Vier Typen von Mediennutzern

    Als ein Fazit der Studie konnte die Forschergruppe um Prof. Rupp empirisch beweisen, dass Schüler unterschiedlich an Medien herangehen und sich dabei grundsätzlich vier Gruppen von "Mediennutzern" herauskristallisierten: Die einen orientieren sich überwiegend am geschriebenen Wort, andere an den Neuen Medien, während wieder andere eher Musik, Fernsehen oder Radio bevorzugen. Die größte Gruppe aber - etwa die Hälfte aller Schüler! - macht gar keinen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Mediensorten und nutzt sie gleichrangig. Diese Schüler gehen offenbar unbewusster bzw. unkritischer mit den Medien um. So sagt eine Schülerin etwa, sie "glaube nicht, dass unbedingt Lesen und Fernsehen miteinander in Konkurrenz stehen".

    Mit dem Strom schwimmen oder Karriere machen?

    Die Verteilung auf die vier Gruppen ist bei Gymnasiasten wie Gesamtschülern ähnlich - allein das Ziel ist ein anderes. Ein weiteres Ergebnis der Studie nämlich ist, dass Gymnasiasten aus höheren Bildungsschichten die Medien dazu nutzen, um sich von der Gesellschaft, von anderen Gruppen oder anderen Personen abzugrenzen. Sie wollen sich ein eigenes Profil schaffen, während Gesamtschüler eher dazu neigen, mit dem Strom zu schwimmen. Sie sind nicht so sehr darauf aus, sich auf ihrem Lebensweg durch einen Dschungel aus Widerständen zu kämpfen - sie wollen nicht um jeden Preis Karriere machen. Ihr Selbstkonzept macht den Unterschied: Die einen wollen sich selbst als Individuum verwirklichen - die anderen fühlen sich wohl als Teil einer Gruppe. Der eigene Lebensentwurf lenkt daher auch die Mediennutzung. So nutzen karrierebewusste Schüler das Fernsehen, die Neuen Medien und Bücher, um sich weiterzuentwickeln und möglichst viel für sich selbst dabei zu gewinnen (etwa Allgemeinbildung, Erfahrung oder Fachkenntnisse) - Gesamtschüler dagegen wollen von den Medien unterhalten werden.

    Unkritischer Umgang mit den Medien

    So lässt mit dem Rückgang der Lese-Orientierung der Schüler ihre Fähigkeit nach, sich kritisch mit den Produkten der Medienwelt auseinander zu setzen. Auch gehen Teile ihres kulturellen Gedächtnisses verloren und damit Teile der geschichtlichen und religiösen Bildung. Dadurch wiederum ist das literarische Verstehen selbst gefährdet, das auf eben diesem mythologischen und historischen Wissen aufbaut. Ein Schüler, der in einem Gedicht eine Anspielung auf 'Faust" nicht erkennt, liest womöglich an der Bedeutung des Textes vorbei. Ein Teufelskreis, dessen sich Lehrer bewusst sein müssen. Zumal die Schüler von heute die Eltern von morgen sind: Welches nach und nach gewachsene kulturelle Wissen können diese dann noch ihren Kindern vermitteln - außer dem Wissen über die doch sehr flüchtigen "Kulturerscheinungen" des Fernsehens?

    Unterrichtskonzept: Binnendifferenzierung und Kreativität

    Dem entgegenzuwirken, hilft die aktive Analyse literarischer Texte. Die Medienanalyse trägt dazu bei, den Medienwandel kritisch zu verarbeiten und die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu stärken. Um einen kritischen - und dennoch auch emotionalen - Medienkonsum anzuregen, bietet sich besonders ein produktionsorientiertes Unterrichtskonzept an: Eigenes kreatives Schreiben und die Produktion audiovisueller Medien (etwa Videos oder Hörspiele) geben Einblick in die gestalterischen Regeln und die Symbolsprache der im Literaturunterricht besprochenen Texte bzw. anderer Medienprodukte. Dazu müssen Lehrer die verschiedenen Mediennutzungstypen in ihrer Klasse kennen und auf jede einzelne Gruppe eingehen. Dies fördert das kritische Verstehen und ein eigenes Selbstbild der Schüler in einer Gesellschaft, die die Fähigkeit voraussetzt, sowohl Sprache als auch bewegte Bilder zu begreifen und zu interpretieren. Die Vermittlung von Medien- und Lesekompetenz wird somit - auch im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Teilhabe am kulturellen Gedächtnis - zu einer zentralen Aufgabe der Schule.

    Titelaufnahme

    Rupp, Gerhard; Heyer, Petra; Bonholt, Helge: "Lesen und Medienkonsum - Wie Jugendliche den Deutschunterricht verarbeiten".Juventa-Verlag Weinheim, 2004, ISBN 3-7799-1668-1

    Weitere Informationen

    Prof. Dr. Gerhard Rupp, Germanistisches Institut der RUB, 44780 Bochum, Tel.: 0234/32-22567, E-Mail: Gerhard.Rupp@rub.de


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    Criteria of this press release:
    Language / literature, Media and communication sciences, Teaching / education
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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