Die Skandinavistin Valerie Broustin von der Universität Bonn hat in einer Fallstudie den isländischen Vorzeitsaga-Zyklus der Hrafnistumannasögur untersucht. Ihre Erkenntnisse könnten zu einem Paradigmenwechsel bei der Erforschung dieser literarischen Gattung führen. Die Ergebnisse sind nun in einem Buch veröffentlicht.
Bei den isländischen Sagas aus der Vorzeit handelt es sich um pralle Unterhaltungsliteratur des späten Mittelalters, die mittlerweile wissenschaftlich belegt als Urquellen moderner Fantasy-Texte angesehen werden. Die Faszination für diese Geschichten voller heldenhafter Wikinger, mächtiger Zauberer, geheimnisvoller Zwerge und unheimlicher Trolle ist bei Studierenden und Forschenden der Skandinavistik an der Universität Bonn ungebrochen. Die jüngste Publikation von Valerie Broustin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Skandinavistik, ist dafür ein gutes Beispiel. An der Herausgeberschaft von vier Bänden zu „Sagas aus der Vorzeit“ beziehungsweise „Märchensagas“ ist Broustin bisher beteiligt gewesen. Nun ist ihre Masterarbeit zu einer weiteren speziellen Gruppe von Sagas als Buch erschienen: „Vikings, Half-Trolls and Saga-Authors. The Norwegian Hrafnistumenn and their Icelandic Descendants.“ Die Fallstudie beschäftigt sich mit vier Sagas, die man als Sammlung unter dem Namen „Hrafnistumannasögur“ zusammenfasst.
Genealogien sind ein Forschungsschwerpunkt von Broustin. Auch beim großen Übersetzungsprojekt der Skandinavistik der Universität Bonn zu den isländischen Sagas aus der Vorzeit galt ihr Hauptaugenmerk den oftmals weitverzweigten Familiengeschichten und Stammbäumen. Daher lag die genauere Untersuchung der Sammlung „Hrafnistumannasögur“ für die Skandinavistin nahe. “Denn dabei handelt sich um eine Gruppe von vier Texten, bei denen eine einzige Familie im Mittelpunkt steht”, sagt Broustin. Die Geschichte dieser ursprünglich norwegischen Familie - die Hrafnistumenn stammen von der Insel Hrafnista (heute Ramsta in Norwegen) – und ihren isländischen Nachfahren wird über vier Generationen erzählt.
Also eine Art Familiengeschichte der nordischen „Buddenbrooks“ im späten Mittelalter? Nicht ganz: Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass es hier definitiv nicht um den Verfall einer Familie geht, sondern um deren Aufstieg von einfachen Bauern zu einer mächtigen Dynastie. „Das ist ein Novum“, erklärt Broustin. Statt göttlichen und königlichen Abkömmlingen wie sonst häufig in den Sagas würden hier Bauern zu Helden werden.
Die Abstammung von Trollen werde explizit durch den Verweis auf den Begriff „Halb-Trolle“ in den Sagas erwähnt. Bemerkenswert sei auch, dass es in drei der vier Geschichten ausdrücklich über den Protagonisten heiße: „Er war kein schöner Mann.“ Das stehe in völligem Gegensatz zu den üblichen Schilderungen der Saga-Helden. Ohnehin müssten die Helden dieser Sagas häufig erst persönliche Charakterschwächen überwinden, erklärt Broustin: „Sie sind am Anfang faul und antriebslos, müssen sich von ihren Vätern sagen lassen, dass sie nichts auf die Reihe kriegen.“ Erst dann durchlaufen sie eine Entwicklung, nehmen die ihnen vorbestimmte Rolle an und füllen sie aus. Die klassische Heldenreise nimmt hier als isländische Saga der Vorzeit ihren Lauf.
Karte der literarischen Aktivitäten in Island
Um mehr Licht in das Dunkel der Autorenschaft dieser Texte zu bringen, hat Broustin eine Karte der literarischen Aktivitäten erstellt. So lassen sich die Nachkommen der Protagonisten bekannten Familien und Ortschaften auf Island zuordnen. Eine zweite Karte illustriert die Gegenden, wo sich Aktivitäten der Nordisländischen Benediktinerschule, einer isländischen Literaturbewegung des 14. Jahrhunderts, nachweisen lassen. Geografische und chronologische Zuordnungen der Sagas sind ebenso wichtig für Hinweise auf deren mögliche Verfasser wie Analysen zur Stoff- und Motivgeschichte sowie stilistische Untersuchungen. „Man muss ziemlich viele Puzzleteile zusammentragen, um sich ein Gesamtbild machen zu können“, erklärt Broustin. Aufgrund vieler thematischer Überschneidungen sei die eindeutige Kategorisierung der Sagas schwierig und daher ein Dauerthema im Fachbereich.
Bei ihrer Masterarbeit zu den Hrafnistumannasögur hat sich Broustin von grundlegenden Fragestellungen leiten lassen: Zu welcher Familie gehörten die Autoren? Waren sie Mitglieder einer gebildeten Elite? Wo haben sie gelebt? Mit wem haben sie zusammengearbeitet? Wo haben sie ihre Bildung genossen? Welche Texte haben sie möglicherweise selbst verfasst oder in Auftrag gegeben? Angesichts der Fülle der verfügbaren Informationen sei es jedoch – bisher – nicht möglich, individuelle Autoren nachzuweisen. Möglicherweise spielte daher bei dieser literarischen Gattung das Konzept von Autorenschaft, wie man es von späteren Epochen der Literaturgeschichte her kennt, gar keine so große Rolle. „Der Kontext, in dem die jeweiligen Sagas stehen, dürfte für die Wissenschaft viel interessanter sein als der einzelne Autor“, erklärt Broustin. Die Beziehungen, die sich bereits nach heutigem Wissensstand zwischen den vielen Sammlungen von Manuskripten finden lassen, böten noch viel Stoff für weitergehende Untersuchungen.
„Studierenden-Power“ beim Übersetzungsprojekt
Broustins Buch richtet sich zwar vornehmlich an die akademische Welt, dürfte aber gerade für Studierende der Skandinavistik in den ersten Semestern wichtiges Hilfs- und Arbeitsmaterial bieten. Deren wissenschaftliche Hartnäckigkeit beim Übersetzen der isländischen Vorzeitsagas sei überragend, sagt Broustin lächelnd: „Die Studierenden-Power bei den Übersetzungen hält an und trägt das Projekt weiterhin.“ Am kommenden Dies Academicus, Mittwoch, 4. Dezember, ab 12:15 Uhr im Festsaal wollen die Studierenden der Abteilung Skandinavistik Auszüge ihrer Übersetzungsarbeiten der Öffentlichkeit vorstellen.
Valerie Broustin
Universität Bonn
Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur und Kulturwissenschaft
Abteilung für Skandinavische Sprachen und Literaturen
Tel. 0228 /7382063
E-Mail: broustin@uni-bonn.de
Valerie Broustin: Vikings, Half-Trolls and Saga-Autors - The Norwegian Hrafnistumenn and their Icelandic Descendants, Band 30 aus der Reihe „Studia Medievalia Septentrionalia“ hrsg. von Rudolf Simek, Verlag Fassbaender Wien, S. 132 , 24 Euro
Valerie Broustin von der Abteilung für Skandinavische Sprachen und Literaturen der Universität Bonn ...
Foto: Bernadett Yehdou/Uni Bonn
Valerie Broustin von der Abteilung für Skandinavische Sprachen und Literaturen der Universität Bonn ...
Foto: Bernadett Yehdou/Uni Bonn
Criteria of this press release:
Journalists, all interested persons
Cultural sciences, Language / literature
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).