Aktuell schlägt eine Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat hohe Wellen, die einen deutlichen Anstieg der Gewalt gegen Frauen diagnostiziert. „Straftaten gegen Frauen und Mädchen steigen in allen Bereichen – Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland.“ Und: „Jeden Tag werden mehr also 140 Frauen und Mädchen in Deutschland Opfer einer Sexualstraftat.“ Diese Zahlen sind erschütternd. Allerdings wissen wir nicht, ob und inwieweit dieser Anstieg auf mehr Gewalttaten durch (meist) Männer oder auf eine steigende Bereitschaft von Frauen zurückzuführen ist, gewalttätige Männer anzuzeigen.
Wie das Bundeskriminalamt als Autor des zugrundeliegenden Bundeslagebildes „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023“ an mehreren Stellen ausdrücklich festhält, ist bei vielen der hier erfassten Straftaten das sogenannte Dunkelfeld von zentraler Bedeutung. Daher bilden die gemeldeten Straftaten die tatsächlichen nur unvollständig ab; allenfalls als Untergrenze sind sie statistisch verwertbar. Speziell bei den Themenkomplexen „häusliche Gewalt“ (siehe dazu auch die Unstatistik vom Dezember 2022) und „verbale Gewalt im Internet“, mit jeweils beträchtlichen Dunkelfeldern, gibt es allerdings gute Indizien, dass hier die Anzeigebereitschaft in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Das bedeutet, dass es möglicherweise gar nicht mehr Straftaten gibt, sondern dass lediglich mehr davon aus dem Dunkelfeld ans Tageslicht gelangen.
Manche Tatbestände sind schwer abzugrenzen
Zu dieser Dunkelfeldproblematik kommt das in der Amtsstatistik besonders virulente sogenannte Adäquationsproblem hinzu: Wie definiert man eigentlich Tatbestände wie Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder hier „gegen Frauen gerichtete Gewalt im Internet“? Schon zu den traditionellen Untersuchungsgegenständen existiert eine ausführliche Literatur darüber, dass das Ergebnis entscheidend von der gewählten Definition abhängt. Auch eine unserer eigenen Unstatistiken hatte dieses Thema zum Gegenstand: Bereits im März 2014 befasste sich die „Unstatistik des Monats“ mit dem Thema Gewalt gegen Frauen („Gewalt gegen Frauen und Zahlen“). In einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) führten Dänemark, Finnland und Schweden die Rangliste weiblicher Gewaltopfer an, während sich am unteren Ende der Rangliste vor allem südliche Länder wie Zypern, Malta oder Portugal fanden. Dieses Ergebnis wurde von der FRA unter anderem damit begründet, dass sich Frauen in „emanzipierten Ländern“ eher als Opfer sexueller Gewalt empfinden als Frauen in Ländern mit einer eher konservativen Rollenverteilung.
Zusammengefasst: Die Zahlen des Bundeslagebilds Häusliche Gewalt sind erschreckend. Im Jahr 2023 waren 180.715 weibliche Opfer betroffen, eine Zunahme von 5,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch bleibt unklar, ob und wieweit diese Zunahme mit einem Anstieg an Gewalttaten oder einem Anstieg der Bereitschaft von Frauen, Täter anzuzeigen, zu erklären ist. Dazu bräuchte man Information über eine mögliche Veränderung der Dunkelziffer durch eine höhere Bereitschaft betroffener Frauen, Gewalttaten anzuzeigen.
Prof. Dr. Walter Krämer, Tel.: (02307) 20 16 931
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https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik
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