Überall auf der Welt stehen Demokratien unter Druck und die Gefahr, dass diese zunehmend autokratisch werden, ist sehr real. Doch immer wieder zeigen sich demokratische Strukturen auch wehrhaft und installierte Schutzmechanismen sowie der Einsatz der Zivilgesellschaft verhindern das endgültige Abkippen ins Autokratische. Solche „Beinahe-Katastrophen“, bei denen die Demokratie am Rande des Scheiterns steht, den Kopf sprichwörtlich aber noch einmal aus der Schlinge zieht, sind mahnende Beispiele für globale gesellschaftspolitische Entwicklungen, die zunehmend in den Fokus der Wissenschaft rücken.
Der Potsdamer Politikwissenschaftler Dr. Christoph M. Abels hat gemeinsam mit Forschenden der University of Bristol sowie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) untersucht, wie es zu solchen politischen „Beinahe-Katastrophen“ kommt und wodurch sie verhindert wurden. Die Erkenntnisse, die nun im Journal „Behavioural Public Policy“ erschienen sind, zeigen, dass auch die Verhaltensforschung dazu beitragen kann, die Risiken für Demokratien bewusster zu machen und ihre Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Dazu zählen etwa Interventionen, die Bürgerinnen und Bürger befähigen, systematische und manipulative Desinformation zu erkennen und sich zu schützen, oder dabei helfen, Polarisierung und Wählerapathie entgegenzutreten.
2004 erreichte der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez eine Verfassungsänderung, die ihm eine zweite Amtszeit ermöglichte. Wie sich später herausstellte, gelang ihm dies mithilfe von Bestechung, Einschüchterung von Journalisten und Bespitzelung des Obersten Gerichtshofes. Sein Versuch, 2010 die Verfassung ein zweites Mal zu ändern und dadurch die Chance auf eine dritte Amtszeit zu erhalten, wurde allerdings vom Verfassungsgericht gestoppt. Moderne Demokratien brechen meist nicht plötzlich oder mit lautem Knall zusammen, sondern oftmals durch eine schleichende Erosion von Normen, Konventionen und Institutionen. Häufig sind es die politischen Eliten der Exekutive, die zunehmend Macht konsolidieren und dabei demokratische Prozesse und Institutionen schrittweise untergraben. In manchen Fällen gelingt es jedoch, eine autokratische Phase rasch rückgängig zu machen oder das vollständige Abkippen ins Autokratische im letzten Moment abzuwenden. Solche sogenannten „Beinahe-Katastrophen“ haben sich die Forschenden um Christoph Abels an konkreten historischen Beispielen in Kolumbien (2010), Sri Lanka (2015) und Südkorea (2017) genauer angeschaut. Dabei greifen sie auf Konzepte der Verhaltensforschung zurück, die sich schon länger mit Unfällen und Beinahe-Katastrophen in soziotechnischen Systemen befasst. „Wir übernehmen das Drift-to-Danger-Modell aus der Unfallforschung, um demokratische Instabilität besser zu beschreiben und zu erklären“, so der Forscher. Dabei habe sich gezeigt, dass schrittweise Verletzungen von Normen in liberalen Demokratien einer dynamischen Entwicklung folgten, bei der ab einem bestimmten Kipppunkt die Rückkehr zu demokratischen Strukturen mit den üblichen Kontrollmechanismen, z.B. durch Wahlen oder zivilgesellschaftliches Engagement, kaum noch möglich sei. Dann könne ein vollständiger Übergang zu einem autoritären Regime sehr schnell erfolgen. Mahnendes historisches Beispiel ist Adolf Hitlers Errichtung einer Einparteiendiktatur und eines Polizeistaats innerhalb weniger Monate nach seiner Ernennung zum Reichskanzler. „Durch die Analyse von Fällen, in denen der Zerfall demokratischer Strukturen und Prozesse erfolgreich abgewendet oder rückgängig gemacht wurde, haben wir sowohl risikoverstärkende Faktoren als auch schützende Maßnahmen ermittelt, die zur Stärkung demokratischer Systeme beitragen“, sagt der Hauptautor der Studie Christoph M. Abels.
Bei allen untersuchten Beispielen hatten politische Eliten demokratische Normen verletzt und wurden letztlich durch eine Reaktion der Öffentlichkeit gestoppt. Die Normverletzungen wurden dabei durch eine Kombination aus Populismus, Fehlinformation und Polarisierung begünstigt. Diese Faktoren schwächten die Schutz- und Kontrollmechanismen, die politische Eliten normalerweise daran hindern, zentrale demokratische Normen zu untergraben. Doch die Analyse zeigte, dass die Rolle der Öffentlichkeit bei der Duldung oder Ablehnung dieser Verletzungen unterschiedlich ausfällt. „Ein entschiedenes Eintreten der Öffentlichkeit für den Erhalt demokratischer Normen – auch gegen eigene politische Interessen – ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Robustheit liberaler Demokratien. Leider untergraben Polarisierung und Populismus die gesellschaftliche Bereitschaft dafür zunehmend“, so Abels.
Die zweite wichtige Erkenntnis der Forschenden betrifft die Nichtlinearität der Entwicklung, die dem Rückgang der Demokratie zugrunde liegt: „Einige Verstöße können aufgefangen werden, aber ein genauer Kipppunkt ist schwer vorhersagbar. Die genaue Bruchstelle, ab der die Abwärtsspirale unumkehrbar werden kann, könnte jederzeit nur eine weitere Normverletzung oder einen weiteren außer Kraft gesetzten Schutzmechanismus entfernt sein“, sagt Co-Autor Prof. Dr. Ralph Hertwig vom MPIB. „Das offenbart, wie wichtig es ist, demokratischen Normen zu schützen und eklatante Verstöße zu benennen und zu verurteilen, da die Folgen des Schweigens nicht vorhersehbar sind.“
Deshalb haben die Forschenden die historische Analyse auch zum Anlass genommen, ihre Erkenntnisse auf aktuelle Entwicklungen in Großbritannien und den USA anzuwenden – und Ansätze dafür zu entwickeln, wie die Verhaltenswissenschaften die Demokratie stärken können. Das US-amerikanische System der „checks and balances“, das vielen anderen Demokratien als Vorbild gedient hat, scheine in mehreren Bereichen zu erodieren, schreiben die Forschenden. Die Gesellschaft sei auf allen Ebenen, von der politischen Führung bis zu den Bürgern, stark polarisiert. Normverstöße seien häufiger geworden, was jüngst darin gipfelte, dass Donald Trump die Legitimität der Präsidentschaftswahlen 2020 anzweifelte.
„Verhaltensinterventionen sind ein weiteres Instrument aus dem Werkzeugkasten derjenigen, die zusammenarbeiten wollen, um den Rückgang der Demokratien weltweit zu stoppen und umzudrehen. Die meisten dieser Interventionen richten sich an die Öffentlichkeit und zielen darauf ab, das Bewusstsein für die Risiken des demokratischen Rückgangs zu schärfen und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Manipulationen und falschen Informationen zu erhöhen“, fasst Prof. Stephan Lewandowsky, Ph.D., Gastprofessor an der Universität Potsdam, die kommenden Forschungsaufgaben zusammen. Dazu gehört, Menschen dabei zu helfen, Falschinformationen besser zu erkennen sowie gesellschaftliche Polarisierung zu verringern, indem falsche Vorstellungen über die politische Opposition korrigiert werden.
Die Studie online: Christoph M. Abels, Kiia Jasmin Alexandra Huttunen, Ralph Hertwig, Stephan Lewandowsky, Dodging the autocratic bullet: enlisting behavioural science to arrest democratic backsliding, Behavioural Public Policy (2024), DOI: https://doi.org/10.1017/bpp.2024.43
Kontakt:
Dr. Christoph M. Abels, Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam
E-Mail: christoph.maximilian.abels@uni-potsdam.de
Medieninformation 06.01.2025 / Nr. 001
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Universität Potsdam
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Dr. Christoph M. Abels, Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam
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