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01/08/2025 09:38

Wie Menschen die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens treffen

Nicole Siller Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

    Manche Entscheidungen im Leben sind so bedeutsam, dass sie den weiteren Lebensweg eines Menschen massiv beeinflussen. Ob es sich um die Entscheidung handelt, auszuwandern, einen Arbeitsplatz zu kündigen, eine langjährige Beziehung zu beenden oder einen sexuellen Übergriff anzuzeigen, all diese Entscheidungen sind transformativ. Sie prägen die persönliche Identität und den Lebenslauf auf unvorhersehbare und oft irreversible Weise. Ein neues Konzeptpapier von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung bietet einen Rahmen für das Verständnis und die Erforschung dieser lebensverändernden Entscheidungen.

    Stellen Sie sich vor, eine stabile Karriere aufzugeben, um einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen, in ein anderes Land zu ziehen, um von vorne zu beginnen, oder die schmerzhafte Entscheidung zu treffen, eine Ehe zu beenden. Das sind keine alltäglichen Entscheidungen; es sind transformative Lebensentscheidungen, die bestimmen, wer wir sind und wer wir werden können. Für manche kann eine solche Entscheidung bedeuten, ein lang gehütetes Geheimnis zu lüften, sich einer lebensverändernden medizinischen Behandlung zu unterziehen oder aus einem vom Krieg zerrütteten Heimatland zu fliehen. Jede dieser Entscheidungen hat das Potenzial, den Lebensweg eines Menschen zu verändern und zu Erfahrungen und Gefühlen zu führen, die schwer oder gar nicht vorhersehbar sind. Solche Entscheidungen stehen im Mittelpunkt eines neuen Konzeptpapiers, das Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in der Fachzeitschrift American Psychologist veröffentlicht haben. Das Papier stellt einen neuen Ansatz für das Verständnis und die Erforschung von transformativen Lebensentscheidungen vor.

    „Um die wichtigsten Entscheidungen im Leben zu verstehen, müssen wir über die stark vereinfachten Modelle hinausgehen, die in den Verhaltenswissenschaften häufig verwendet werden“, sagt Erstautorin Shahar Hechtlinger. Sie gehört zu einer Gruppe am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, die einfache Heuristiken untersucht, mit denen Menschen gute Entscheidungen treffen können. „In der Forschung zum Urteilen und Entscheiden arbeiten wir oft mit stark vereinfachten, stilisierten Aufgaben. Diese kontrollierten Szenarien stehen aber im starken Gegensatz zu den Entscheidungen, die Menschen im wirklichen Leben in unterschiedlichen Kulturen und Kontexten treffen müssen“, sagt Hechtlinger. Deshalb plädiert sie für einen Perspektivenwechsel: Statt transformative Lebensentscheidungen auf Modelle zu reduzieren, die für unrealistische Probleme entwickelt wurden, bei denen man alle relevanten Informationen zur Hand hat, sollten Forschende deren realen Merkmale untersuchen.

    Methodisch überführt dieser Ansatz eine lange Tradition vorwiegend laborbasierter Forschung zu Urteilen und Entscheidungen in einen textbasierten Ansatz und schafft damit die Grundlage für empirische Arbeiten, die reale Entscheidungen mithilfe von Methoden zur maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing) untersuchen. Durch die Analyse verschiedener Textdaten – darunter persönliche Erzählungen, Bücher, Online-Foren und Nachrichtenartikel – identifizierte das Team fünf Schlüsseldimensionen transformativer Entscheidungen.

    Transformative Lebensentscheidungen können unterschiedliche Profile dieser Dimensionen aufweisen, wobei einige relevanter sind als andere. Eine Dimension sind konfligierende Gründe, bei denen konkurrierende und oft nicht vergleichbare Werte einen Vergleich erschweren. Beispielsweise kann eine Auswanderung Sicherheit bieten, geht aber mit dem Verlust von geliebten Menschen einher. Eine weitere Dimension ist die Veränderung des Selbst. Transformative Entscheidungen können die Werte und die persönliche Identität der Menschen in erwünschter und unerwünschter Weise umgestalten, etwa durch Elternschaft oder das Ende einer langfristigen Beziehung. Eine dritte Dimension ist die Ungewissenheit über das tatsächliche Empfinden. Wie eine Person die erwartete Konsequenz einer transformativen Entscheidung erlebt, ist oft unklar. Beispielsweise kann das Beenden einer langjährigen Karriere Zweifel wecken, ob der Wechsel tatsächlich zu mehr Erfüllung führt. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Irreversibilität, da viele Entscheidungen, wie zum Beispiel eine Scheidung oder Migration, nur schwer oder gar nicht rückgängig gemacht werden können. Auch das Risiko ist allgegenwärtig. Diese Entscheidungen bergen – neben möglichen Belohnungen – oft das Potenzial für erhebliche physische, emotionale, soziale oder finanzielle Verluste.

    Die Forschenden schlagen einfache und psychologisch plausible Entscheidungsstrategien vor, um diese Dimensionen anzugehen. Stehen Werte und Hinweise in Konflikt und lassen sich nicht vergleichen, erleichtert die sogenannte Tallying-Heuristik den Vergleich, indem sie positive und negative Gründe für jede Option einfach zählt, ohne deren Wichtigkeit zu gewichten. Um mit erwarteten Veränderungen des Selbst umzugehen, richtet die Strategie der idealen Selbstverwirklichung Entscheidungen an der Vision des idealen Selbst aus. Dies ermöglicht es Individuen, Entscheidungen zu treffen, die mit dem übereinstimmen, was sie sein möchten. Um die Ungewissheit über das tatsächliche Empfinden zu verringern, können Menschen aus den Erfahrungen anderer lernen. Indem sie beobachten, wie Personen in ähnlichen Situationen Entscheidungen getroffen haben, erhalten sie Einblicke in mögliche Ergebnisse. Bei schwer umkehrbaren Entscheidungen erlaubt die Testing-the-Waters-Strategie, zunächst kleine, umkehrbare Schritte zu unternehmen, bevor eine vollständige Verpflichtung eingegangen wird. Schließlich können Strategien wie Hedge Clipping, bei denen schrittweise Maßnahmen ergriffen und gleichzeitig das Risiko sorgfältig minimiert werden, effektiv Risiken reduzieren. Beispielsweise sorgt das Sichern einer Unterkunft vor der Auswanderung für ein Sicherheitsnetz, das den Übergang reibungsloser und weniger riskant macht.

    Der Ansatz leistet einen wichtigen theoretischen Beitrag zur ökologischen Rationalitätsforschung, die untersucht, wie erfolgreich Entscheidungsstrategien sind, wenn sie an das Umfeld, in dem sie angewendet werden, angepasst sind. Transformative Lebensentscheidungen mit ihrer inhärenten Unsicherheit und ihrem Potenzial zur Neugestaltung der persönlichen Identität stellen traditionelle Rationalitätsmodelle infrage, die häufig auf stark vereinfachenden Annahmen beruhen. „Die ökologische Rationalität betont die Bedeutung der Passung zwischen Entscheidungsstrategien, Umwelt und Individuen“, erklärt Ralph Hertwig, Co-Autor und Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Unsere Arbeit erweitert diese Theorie, indem sie subjektive Dimensionen wie Veränderungen der persönlichen Identität und Werte in den Entscheidungsprozess einbezieht.” Durch die Berücksichtigung des Zusammenspiels zwischen Entscheidungsstrategien, externen Beschränkungen und der sich entwickelnden Identität eines Individuums bereichert die Studie die ökologische Rationalität um Erkenntnisse über psychologische und erfahrungsbasierte Aspekte der Entscheidungsfindung.

    Der Artikel hebt auch die potenziellen Anwendungen nicht nur für Einzelpersonen hervor, sondern auch für politische Entscheidungsträger*innen, Coaches und Therapeut*innen sowie Organisationen, die Unterstützung in Lebensübergangsphasen bieten. Das Verständnis dafür, wie Menschen transformative Lebensentscheidungen treffen, könnte politischen Entscheidungsträger*innen dabei helfen, Programme und Richtlinien zu gestalten, die die Komplexität grundlegender Entscheidungen wie Migration oder Langzeitpflege berücksichtigen. Dabei könnten sie wichtige Schlüsseldimensionen wie Risiko und Irreversibilität gezielt einbeziehen.

    Neben einem neuen Verständnis von transformativen Lebensentscheidungen ebnet dieser Ansatz den Weg für zukünftige Studien. Die Forschenden führen derzeit ein groß angelegtes empirisches Projekt durch, um ihren Ansatz zu testen und die Entscheidungsfindung in verschiedenen Lebensbereichen zu untersuchen – darunter Beziehungen, Migration, Familie und Arbeit. Zukünftige Forschungsarbeiten werden auch die Rolle von Faktoren wie psychische Gesundheit, Persönlichkeitsmerkmale und Risikoverhalten bei der Gestaltung transformativer Lebensentscheidungen untersuchen.

    In Kürze:
    • Transformative Lebensentscheidungen können die Identität und den Lebensweg auf oft unumkehrbare Weise verändern.

    • Der Artikel identifiziert fünf Dimensionen, die transformative Lebensentscheidungen definieren: konfligierende Gründe, Veränderungen des Selbst, Ungewissenheit über das tatsächliche Empfinden, Irreversibilität und Risiko.

    • Der Artikel bietet praktische Strategien zur Bewältigung transformativer Lebensentscheidungen, darunter die Tallying-Heuristik, die Strategie der idealen Selbstverwirklichung und das Lernen aus den Erfahrungen anderer.

    • Der Artikel schlägt einen Rahmen vor, der die komplexe Realität von Entscheidungsprozessen erfasst und über vereinfachte Modelle hinausgeht. Er integriert subjektive Aspekte mit ökologischer Rationalität.


    Original publication:

    Hechtlinger, S., Schulze, C., Leuker, C., & Hertwig, R. (2024). The psychology of life's most important decisions. American Psychologist. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/amp0001439


    More information:

    https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/transformative-lebensentscheidung... Zur Pressemitteilung auf der MPIB-Webseite
    https://www.mpib-berlin.mpg.de/1956201/unraveling-behavior-episode3 Shahar Hechtlinger spricht zum Thema im Podcast Unraveling Behavior


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Psychology
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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