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02/19/2025 17:00

Elektrisierende physikalische Erkenntnisse | Statische Elektrizität hängt von der Kontakthistorie der Materialien ab

Andreas Rothe Communications, Events and Science Education
Institute of Science and Technology Austria

    Statische Elektrizität fasziniert nicht nur seit Jahrhunderten, sondern stellt auch Wissenschafter:innen vor ein Rätsel. Jetzt haben Forscher:innen am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) einen entscheidenden Hinweis in dieser anhaltenden Rätseljagd gefunden: Die Vorgeschichte des Kontakts von Materialien steuert, wie sie Ladung austauschen. Die bahnbrechenden Ergebnisse, die jetzt in Nature veröffentlicht wurden, enthüllen eine Ordnung, die lange Zeit als Chaos galt.

    Vom winzigen elektrischen Schlag beim Berühren einer Türklinke bis hin zu Styroporchips, die am Fell einer verspielten Katze haften bleiben – das bekannte und scheinbar einfache Phänomen der statischen Elektrizität gibt den Menschen seit der Antike Rätsel auf. Wie kann es sein, dass dieser allgegenwärtige Effekt, der Kindern häufig durch das Reiben eines Luftballons an den Haaren vorgeführt wird, von Wissenschafter:innen immer noch nicht vollständig verstanden wird?

    Statische Elektrizität hat mehrere Namen, aber Forschende bevorzugen die Bezeichnung „Kontaktelektrisierung“. Anders als der Name „statische Elektrizität“ vermuten lässt, ist dieser Effekt nicht statisch, sondern beruht auf Bewegung, da immer dann eine gewisse Ladung übertragen wird, wenn sich zwei elektrisch neutrale Materialien berühren. „Es gibt kein Entkommen vor der Kontaktelektrisierung; jede Person erlebt sie. Deshalb mag es uns überraschen, dass wir nicht genau verstehen, wie sie passiert“, sagt Scott Waitukaitis, Assistenzprofessor am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), der diese Arbeit zusammen mit dem ISTA-Doktoranden Juan Carlos Sobarzo leitete. Jetzt hat das Team ein wichtiges Puzzleteil aufgedeckt, das jahrhundertelang unbekannt war: „Wir haben verschiedene Parameter getestet, die die Kontaktelektrisierung beeinflussen könnten, aber keiner von ihnen konnte unsere Ergebnisse stichhaltig erklären. An diesem Punkt haben wir innegehalten und überlegt: Was wäre, wenn es der Kontakt selbst ist, der das Ladeverhalten beeinflusst? Das Wort ‚Kontakt‘ ist bereits im Namen enthalten, wurde aber bisher weitgehend übersehen“, sagt Sobarzo.

    „Ein totales Chaos“

    Trotz der Allgegenwart des Phänomens konnten Wissenschafter:innen jahrhundertelang nicht verstehen, wie verschiedene Materialien eine Kontaktelektrisierung erfahren. Während der Mechanismus für Metalle in den 1950er Jahren verstanden werden konnte, erwiesen sich elektrische Isolatoren als schwieriger zu verstehen – obwohl sie die Materialien sind, die am meisten Ladung austauschen. Mehrere Studien haben bereits darauf hingewiesen, dass Isolatoren anhand des Vorzeichens der Ladung, die sie austauschen, geordnet werden könnten, von der positivsten bis zur negativsten. Wenn sich beispielsweise Glas positiv gegenüber Keramik und Keramik positiv gegenüber Holz auflädt, dann lädt sich Glas (normalerweise) positiv gegenüber Holz auf. Somit würden Glas, Keramik und Holz eine sogenannte „triboelektrische Reihe“ bilden.

    Das Problem bei diesen triboelektrischen Reihen besteht laut Waitukaitis darin, dass verschiedene Forscher:innen unterschiedliche Reihenfolgen erhalten oder sogar nicht zweimal dieselbe Reihenfolge erhielten, wenn sie ihre eigenen Experimente wiederholten. „Es schien lange Zeit ein totales Chaos zu sein, zu verstehen, wie Isoliermaterialien Ladung austauschen: Die Experimente sind unvorhersehbar und können manchmal völlig zufällig erscheinen“, sagt er. Angesichts dieses „totalen Chaos“ konnten sich Physiker:innen und Materialwissenschafter:innen nicht auf ein Modell einigen, um den Mechanismus zu erklären. Erschwerend kam hinzu, dass sie mit der beunruhigenden Tatsache zurechtkommen mussten, dass selbst identische Materialien, wie z. B. zwei Luftballons, Ladung austauschten. Schließlich sollten die Materialien gleich sein, also was bestimmt, wohin die Ladung fließt?

    Ordnung entsteht aus Chaos

    Waitukaitis und Sobarzo gingen davon aus, dass diese Kontaktelektrisierung bei „gleichen Materialien“ der Schlüssel sein könnte, um den Effekt im weiteren Sinne zu verstehen. Durch die Arbeit mit „identischen“ Materialien reduzierten sie die Anzahl der freien Variablen auf ein Minimum – sie mussten nur noch die eine Sache finden, die die Proben unterschiedlich machte. Als Material wählten sie Polydimethylsiloxan (PDMS) – ein klares, silikonbasiertes Polymer, aus dem sie kunststoffähnliche Blöcke herstellten.
    Zu diesem Zeitpunkt lautete die führende Hypothese, der Grund dafür warum identische Materialien Ladung austauschten, seien zufällige Variationen der Oberflächeneigenschaften. Frustrierend war, dass auch die ersten Ergebnisse des Teams Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit widerspiegelten. Ohne zu ahnen, dass die Kontakthistorie der Proben eine Rolle spielen würde, hatten sie verschiedene Bedingungen getestet, manchmal mit denselben Proben. Sie wussten also nicht, dass sich diese mit jedem weiteren Kontakt weiterentwickelten.

    Als sie nach neuen Forschungsmöglichkeiten suchten, kam ihnen der Gedanke, zu testen, ob identische PDMS-Proben in einer triboelektrischen Reihe angeordnet werden können. „Ich nahm einen Satz Proben, die ich zur Hand hatte – damals habe ich sie für mehrere Experimente wiederverwendet – und zu meiner Überraschung sah ich, dass sie sich beim ersten Versuch in einer Reihe anordneten“, sagt Sobarzo. Von diesem unerwarteten Ergebnis begeistert, versuchten die Physiker:innen, das Experiment mit frischen Proben zu wiederholen, wurden aber schnell enttäuscht, als sie wieder zufällige Ergebnisse sahen. „An diesem Punkt hätten wir das Handtuch werfen können“, sagt Sobarzo. ‚Ich beschloss jedoch, es am nächsten Tag mit demselben Probensatz noch einmal zu versuchen. Die Ergebnisse sahen besser aus, also versuchte ich es weiter, bis die Proben beim fünften Versuch eine perfekte Serie bildeten.‘ Sobarzo war gerade auf die Antwort gestoßen, warum die alten Proben beim ersten Versuch funktionierten. Durch wiederholten Kontakt konnten sich die Proben irgendwie weiterentwickeln. „Sobald wir angefangen haben, die Kontakthistorie der Proben zu verfolgen, ergaben vermeintliche Zufälligkeit und Chaos tatsächlich einen Sinn“, sagt Waitukaitis. Tatsächlich stellte das Team fest, dass sich die Proben nach etwa 200 Kontakten vorhersehbar verhielten und dass die häufiger „kontaktierte“ Probe durchweg negativ gegenüber der Probe mit der geringeren Kontakthistorie aufgeladen war. Die Forscher:innen konnten sogar zeigen, dass die PDMS-Proben zuverlässig eine „vorgefertigte“ triboelektrische Reihe bilden konnten, wenn die Anzahl der Kontakte und die Reihenfolge der Experimente dementsprechend kontrolliert wurden.

    Eine glattere Oberfläche

    Die Idee, dass die Art und Weise, wie sich eine Probe auflädt, durch ihre Kontakthistorie gesteuert werden könnte, war bisher noch nie vorgeschlagen worden. Damit erklärt das Team, warum so viele Experimente zur Kontaktelektrisierung zufällig und unkontrollierbar erscheinen. Es bleibt jedoch die Frage, wie der Kontakt die Proben verändert. Das Team ging also noch einen Schritt weiter und setzte verschiedene Techniken ein, die die Oberflächen der Proben vor und nach dem Kontakt untersuchten. Nur ein Parameter konnte einen Hinweis liefern: Sie entdeckten diskrete Veränderungen in der Oberflächenrauheit der Materialien im Nano-Maßstab. Konkret zeigten sie, dass Kontakte die kleinsten Unebenheiten auf der Oberfläche eines Materials glätteten. Wie dies zu einer Kontaktelektrisierung führt, weiß das Team noch nicht, aber da es die einzige Veränderung ist, die sie feststellen konnten, ist sie sehr aufschlussreich. „Wir haben es geschafft, einen großen Hinweis zu einem schwer fassbaren Mechanismus zu liefern, der für unser Verständnis von Elektrizität und Elektrostatik so grundlegend ist und die Wissenschafter:innen dennoch so lange vor ein Rätsel gestellt hat“, sagt Sobarzo. Waitukaitis kann seine Begeisterung kaum verbergen: „Wir haben gezeigt, dass die Erforschung der statischen Elektrizität nicht mehr so hoffnungslos ist.“

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    Projektförderung:
    Dieses Projekt wurde durch Fördermittel vom Europäischen Forschungsrat (ERC) unter der Fördervertragsnummer 949120 im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 der Europäischen Union, dem FFG-Projekt „ELSA“ unter der Fördervertragsnummer 884672 sowie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und dem Bundesland Niederösterreich unter der Fördervertragsnummer WST3-F-542638/004-2021 unterstützt.


    Original publication:

    Juan Carlos Sobarzo, Felix Pertl, Daniel M. Balazs, Tommaso Costanzo, Markus Sauer, Annette Foelske, Markus Ostermann, Christian M. Pichler, Yongkang Wang, Yuki Nagata, Mischa Bonn & Scott Waitukaitis. 2025. Spontaneous Self-Organization of Identical Materials into a Triboelectric Series. Nature. DOI: https://doi.org/10.1038/s41586-024-08530-6


    More information:

    https://ista.ac.at/de/forschung/waitukaitis-gruppe/ Forschungsgruppe "Weiche und komplexe Materialien" am ISTA


    Images

    ISTA PhD-Student Juan Carlos Sobarzo und Assistenzprofessor Scott Waitukaitis im Labor.
    ISTA PhD-Student Juan Carlos Sobarzo und Assistenzprofessor Scott Waitukaitis im Labor.

    © ISTA

    ISTA PhD-Student und Erstautor Juan Carlos Sobarzo zeigt eine Polydimethylsiloxan- (PDMS)-Probe. © ISTA
    ISTA PhD-Student und Erstautor Juan Carlos Sobarzo zeigt eine Polydimethylsiloxan- (PDMS)-Probe. © I ...


    Attachment
    attachment icon Erstautor Juan Carlos Sobarzo misst im Labor am ISTA, wie identische Proben Ladung austauschen.

    Criteria of this press release:
    Journalists
    Materials sciences, Physics / astronomy
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    ISTA PhD-Student Juan Carlos Sobarzo und Assistenzprofessor Scott Waitukaitis im Labor.


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    ISTA PhD-Student und Erstautor Juan Carlos Sobarzo zeigt eine Polydimethylsiloxan- (PDMS)-Probe. © ISTA


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