Deutschland investiert Milliarden in sein Gesundheitswesen – doch die Ergebnisse bleiben hinter denen vieler europäischer Nachbarn zurück. Warum ist das so? Eine aktuelle Analyse der Gesundheitspolitik beleuchtet systematische Schwächen und macht Reformvorschläge.
Deutschland gehört zu den wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Das Sozialsystem ist gut ausgebaut, die Gesundheitsausgaben pro Kopf sind die dritthöchsten innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Trotzdem bleiben die Gesundheitsindikatoren des Landes hinter denen vergleichbarer europäischer Staaten zurück. Die Menschen sind kränker und sterben früher. Wie kann das sein?
Eine am Montag in der renommierten Fachzeitschrift Lancet Public Health erschienene gesundheitspolitische Übersichtsarbeit unter der Leitung von Prof. Dr. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Deutschland hat ein strukturelles Problem in der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Statt Krankheiten zu verhindern, konzentriert sich das System zu sehr auf deren Behandlung – und das mit zum Teil ineffizienten Strukturen.
„Ein System, das Krankheiten verwaltet, statt sie zu verhindern“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen drei Hauptprobleme:
• Fehlende zentrale Steuerung – Deutschland hat keine starke Institution, die Public-Health-Maßnahmen koordiniert. Stattdessen herrscht ein Flickenteppich aus Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, der zu schlechter Abstimmung und ineffizienter Mittelverteilung führt.
• Zu wenig Prävention, zu viel Reparaturmedizin – Die Krankenkassen investieren Milliarden in hochspezialisierte Behandlungen, während die Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin ein Nischendasein fristet.
• Lobbys verhindern wirksame Maßnahmen – Zuckersteuer? Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel? Regulierungen für Tabak und Alkohol? In Deutschland sind diese Maßnahmen entweder abgeschwächt oder nie umgesetzt worden – oft unter dem Einfluss wirtschaftlicher Interessen.
„Die Folge ist ein Gesundheitssystem, das zwar enorm teuer ist, aber zu wenig für die langfristige Gesundheit der Bevölkerung tut“, sagt Erstautor Zeeb.
Nachteile föderaler Strukturen
Neben einigen Vorteilen wie dem Spielraum für eigene Schwerpunktsetzungen haben die föderalen Strukturen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung auch Nachteile. Zu oft werden Gesundheitsdaten unkoordiniert erhoben und sind nicht ausreichend miteinander verbindbar – ein Problem, das sich während der Covid-19-Pandemie besonders deutlich zeigte.
„Während andere Länder klare Strategien für Public Health entwickelt haben, fehlt eine solche in Deutschland“, erklärt Ko-Autor Prof. Dr. Ansgar Gerhardus von der Universität Bremen.
Lösungsvorschläge: Mehr Mut zu Public Health
Die Autorinnen und Autoren der Arbeit schlagen vier zentrale Reformen vor:
• Eine starke Identität für Public Health entwickeln – Deutschland braucht eine kohärente Vision für Gesundheitspolitik, die Prävention und Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt stellt.
• Eine nationale Public-Health-Strategie aufstellen – Gesundheitsförderung darf nicht länger ein Flickwerk bleiben, sondern muss systematisch und sektorübergreifend gedacht werden.
• Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen – Neben dem Gesundheitswesen müssen auch Bildung, Arbeit und Umweltpolitik verstärkt auf präventives Handeln ausgerichtet werden.
• Kommerzielle Interessen regulieren – Die Politik muss sich trauen, gesundheitsschädliche wirtschaftliche Interessen stärker zurückzudrängen, sei es bei
Ernährung, Alkohol oder Tabak.
„Deutschland muss umdenken“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen, dass der Status quo nicht nur ein Problem für die Gesundheit der Bevölkerung ist, sondern auch für die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Die Kosten für das Gesundheitssystem steigen seit Jahren, während die Krankenkassen immer wieder Beitragserhöhungen ankündigen müssen.
„Deutschland kann sich sein aktuelles System auf Dauer nicht leisten – weder gesundheitspolitisch noch wirtschaftlich“, sagt Zeeb. „Wir brauchen eine Neuausrichtung hin zu mehr Prävention, wenn wir nicht weiter in der Kostenspirale gefangen bleiben wollen.“
Die Analyse macht deutlich: Deutschland hat die Mittel, um ein gesünderes und effizienteres System aufzubauen – doch es fehlt bislang der politische Wille, die notwendigen Reformen anzugehen.
Das BIPS – Gesundheitsforschung im Dienste des Menschen
Die Bevölkerung steht im Zentrum unserer Forschung. Als epidemiologisches Forschungsinstitut sehen wir unsere Aufgabe darin, Ursachen für Gesundheitsstörungen zu erkennen und neue Konzepte zur Vorbeugung von Krankheiten zu entwickeln. Unsere Forschung liefert Grundlagen für gesellschaftliche Entscheidungen. Sie informiert die Bevölkerung über Gesundheitsrisiken und trägt zu einer gesunden Lebensumwelt bei.
Das BIPS ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der 96 selbstständige Forschungseinrichtungen gehören. Die Ausrichtung der Leibniz-Institute reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei 2 Milliarden Euro.
Prof. Dr. med. Hajo Zeeb
Tel: +49 (0)421 218-56902
E-Mail: zeeb@leibniz-bips.de
Zeeb H, Loss J, Starke D, Altgeld T, Moebus S, Geffert K, Gerhardus A. Public health in Germany: Structures, dynamics and ways ahead health policy. The Lancet Public Health. 2025. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(25)00033-7
http://Video mit einer Einordnung von Prof. Dr. Hajo Zeeb: https://youtu.be/haUmlsKmpqk
Prof. Dr. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS
Sebastian Budde
BIPS
Criteria of this press release:
Journalists
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Research results
German
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