Dass Kinder mit einer genetisch bedingten und angeborenen Schwerhörigkeit oder Taubheit ohne Hörimplantat hören können – dieser Traum ist für viele betroffene Kinder und ihre Familien Ende April möglicherweise ein Stück näher gerückt. An der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen wurde im Rahmen einer klinischen Studie die in Deutschland erste gentherapeutische Behandlung eines Kindes durchgeführt, welches aufgrund einer genetischen Veränderung im Otoferlin-Gen nicht hören kann. Ergebnisse bei Kindern, die in anderen Ländern im Rahmen dieser klinischen Gentherapiestudie bereits eine Behandlung erhalten haben, zeigen das Potenzial der Therapie.
Bis zu 80 Prozent aller Fälle von Schwerhörigkeit bei Neugeborenen und Kindern vor dem Spracherwerb sind genetisch bedingt . Unter diesen genetisch bedingten Fällen sind etwa ein bis acht Prozent auf krankheitsverursachende Mutationen im Otoferlin-Gen (OTOF) zurückzuführen . Kinder mit dieser seltenen Erkrankung sind meist von Geburt an beidseitig hochgradig schwerhörig oder gehörlos. Mutationen im OTOF-Gen können bewirken, dass die Cochlea (Innenohr) den Schall zwar aufnimmt, aber die Signale nicht an den Hörnerv weiterleiten kann.
Bisher erhalten betroffene Kinder Cochlea-Implantate, die bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit in einem chirurgischen Eingriff eingesetzt werden und über eine in die Cochlea eingeführte Elektrode den Hörnerv stimulieren. Für viele betroffene Kinder sind die Implantate eine lebensverändernde und sehr effektive Lösung. Cochlea-Implantate sind auch für andere Formen des Hörverlusts anwendbar – und werden weiterhin die derzeit bestmögliche Therapie für diejenigen Kinder sein, die aus verschiedenen Gründen nicht für die klinische Gentherapiestudie in Frage kommen.
Der innovative Eingriff, der im April 2025 von Prof. Hubert Löwenheim, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, durchgeführt wurde, ist möglicherweise der Beginn eines neuen medizinischen Ansatzes zur ursächlichen Behandlung genetisch bedingter Schwerhörigkeit. Die Gentherapie zielt darauf ab, das natürliche Gehör auf molekularer Ebene wiederherzustellen.
Wie funktioniert die Gentherapie?
Mithilfe eines Vektors, der wie ein Gen-Taxi funktioniert, wird eine gesunde Kopie des OTOF-Gens chirurgisch direkt in die Cochlea eingebracht. Hierdurch kann das Innenohr eventuell Signale an den Hörnerv wieder übertragen, der ursächliche Defekt wird behoben. „Die erfolgreiche Einführung der Gentherapie bei genetischem Hörverlust könnte eine völlig neue medizinische Perspektive für die Herstellung des Hörvermögens eröffnen. Wir treten in die Ära der "Molekularen Otologie" ein, in der wir die etablierten mechanischen und elektrischen Lösungen durch eine molekulare Behandlungsmethode ergänzen. Wir versuchen, an der genetischen Ursache der Erkrankung anzusetzen“, erklärt Löwenheim.
Internationale Studie zeigt vielversprechende Ergebnisse
Der Eingriff wurde im Rahmen der internationalen klinischen Studie CHORD (Clinical trial of Hearing Restoration with Otoferlin gene Delivery) durchgeführt, die von dem US-Unternehmen Regeneron Pharmaceuticals, Inc. in Tarrytown im Bundesstaat New York gesponsert wird und im Mai 2023 gestartet ist. Die Studie untersucht den Einsatz der experimentellen Gentherapie DB-OTO zur Behandlung von Hörverlusten, die durch krankheitsverursachende Veränderungen im Otoferlin-Gen verursacht werden. Eingeschlossen werden Kinder im Alter von 0 bis 17 Jahren in vier Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Spanien, USA). Bisher wurde die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Versuchstherapie noch von keiner Zulassungsbehörde bewertet.
Erste Ergebnisse sind allerdings vielversprechend: Regeneron berichtete im Februar 2025, dass zehn von elf Teilnehmenden der CHORD-Studie nach der Behandlung mit DB-OTO zum Teil deutliche Verbesserungen des Hörvermögens zeigten. Besonders erwähnenswert ist ein Fall an einem Klinikum im Vereinigten Königreich, bei dem ein zehn Monate altes Kind nach der Gentherapie innerhalb von sechs Wochen deutliche Verbesserungen des Hörvermögens zeigte. 24 Wochen nach der Behandlung konnte es auf leise Töne und Sprache reagieren, was das Potenzial von DB-OTO zur Wiederherstellung des Hörvermögens bei Kindern mit OTOF-bedingter Taubheit belegt.
Wie sich das Hörvermögen des Patienten am Uniklinikum Tübingen in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird, überprüfen Ärztinnen und Ärzte in strukturierten Nachuntersuchungen. Um umfassende Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie zu sammeln, werden in den kommenden Monaten weitere Teilnehmende in mehreren Ländern in die Studie eingeschlossen. Der potenzielle Erfolg der Gentherapie bei der Behandlung von OTOF-bedingter Schwerhörigkeit ebnet zudem den Weg für ähnliche Ansätze, die auf andere genetische Ursachen von Hörverlust abzielen. „Ähnlich wie die Cochlea-Implantation sollten Gentherapien für angeborene Schwerhörigkeit oder Taubheit möglichst früh im Leben der betroffenen Kinder durchgeführt werden. Deshalb ist es wichtig, Kinder mit Auffälligkeiten in diesem Bereich möglichst früh genetisch zu untersuchen, um eine spezifische Ursache feststellen zu können. Nur so kann sich das Gebiet der Molekulare Otologie wirklich weiterentwickeln“, betont Löwenheim.
Hoffnung für Menschen mit seltenen Erkrankungen
„Dieser Fortschritt bringt nicht nur Hoffnung für Menschen mit angeborenem Hörverlust, sondern ist auch wissenschaftlich ein Modell dafür, was bei einer Vielzahl seltener Erkrankungen erreicht werden kann. Wir freuen uns sehr, dass das Zentrum für Seltene Hörerkrankungen den Rahmen für die Entwicklung von klinischer Expertise, Patientenbetreuung und langfristigem Engagement für Innovation und Interdisziplinarität geschaffen hat, um diesen neuen gentherapeutischen Ansatz in einer klinischen Studie untersuchen zu können", sagt Prof. Hendrik Rosewich, Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung III. Seltene Erkrankungen betreffen nur wenige Menschen und haben durch den oft langsamen Fortschritt in der Forschung und durch begrenzte Behandlungsmöglichkeiten tiefgreifende persönliche und soziale Folgen.
Patientinnen und Patienten sollen die Wahl haben
Die Gentherapie steht nicht im Wettbewerb mit Cochlea-Implantaten, betont Prof. Löwenheim. Vielmehr soll sie – falls von den Regulierungsbehörden genehmigt – das Behandlungsspektrum derjenigen Kinder erweitern, deren Schwerhörigkeit oder Taubheit durch eine Mutation im OTOF-Gen bedingt ist. „Wir hoffen, dass wir mit der Zeit in der Lage sein werden, den Patientinnen und Patienten je nach ihren individuellen Bedürfnissen und Umständen die Wahl zwischen verschiedenen therapeutischen Optionen oder Kombinationen anbieten zu können", erklärt der Ärztliche Direktor der HNO-Klinik, Hubert Löwenheim.
Das Universitätsklinikum Tübingen wird die Entwicklung von Gentherapien für Hörverlust und anderen seltenen genetischen Erkrankungen weiter unterstützen und vorantreiben. Prof. Jens Maschmann, Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums, betont: „Die Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde ist ein Beispiel für die Exzellenz und Innovation, die die Mission des Universitätsklinikums Tübingen untermauert. Ihre Pionierarbeit im klinischen Bereich der „Molekularen Otologie“ ist eine natürliche Erweiterung des Tübinger Engagements für die personalisierte Medizin, bei der die Behandlungen zunehmend auf die genetischen und molekularen Profile unserer Patientinnen und Patienten zugeschnitten werden. Wir gratulieren Prof. Löwenheim und seinem Team dazu, dass sie neue Behandlungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten mit seltenen Hörstörungen eröffnet haben."
Informationen für Patientinnen und Patienten, Angehörige, Ärztinnen und Wissenschaftler
Familien, die an der Teilnahme in klinischen Studien interessiert sind, sowie Ärztinnen und Ärzte, die Patientinnen und Patienten überweisen möchten, können sich an die Studienzentrale Auge und Ohr wenden:
Dr. Tobias Peters, Leitung
Universitätsklinikum Tübingen
Elfriede-Aulhorn-Str. 5, 72076 Tübingen, Deutschland
Tel.: 07071 29-84894 oder -64349
E-Mail: uktee@med.uni-tuebingen.de
www.medizin.uni-tuebingen.de/de/studienzentrale-auge-ohr#startseite
Video- und Fotomaterial:
Unter diesem Link stehen ein Video (Interview mit Prof. Hubert Löwenheim) und zwei Fotos aus dem Operationssaal zur Verfügung:
https://uktcloud.medizin.uni-tuebingen.de/index.php/s/BYNB3mXKwm67FGw/authentica...
Passwort: Otoferlin2025
Video- und Fotorechte: Universitätsklinikum Tübingen
Prof. Hubert Löwenheim
Ärztlicher Direktor
Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Medicine
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
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