Der Bahndrehimpuls des Elektrons galt lange eher als physikalische Nebensache, in den meisten Kristallen wird er ohnehin unterdrückt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich haben nun entdeckt, dass er in bestimmten Materialien nicht nur erhalten bleibt, sondern sich sogar aktiv steuern lässt. Und zwar durch eine Eigenschaft der Kristallstruktur, die Chiralität oder auch Händigkeit genannt wird und auch sonst viele Prozesse in der Natur beeinflusst. Die Entdeckung hat das Potenzial für eine neue Klasse elektronischer Bauelemente, die Informationen besonders robust und energieeffizient übertragen können.
Der Bahndrehimpuls ist eine der grundlegenden Quantenzahlen des Elektrons, ähnlich wie der Spin, der eine scheinbare Eigenrotation des Elektrons beschreibt. Anders ist der Bahndrehimpuls in Kristallen jedoch höchst selten beobachtbar. Meist wird er durch die symmetrischen elektrischen und magnetischen Felder im Kristallgitter unterdrückt – ein Effekt, der auch „Quenching“ genannt wird.
In sogenannten chiralen Materialen wie dem untersuchten Cobaltsilicid (CoSi) ist das anders, wie das Team um Christian Tusche gemeinsam mit Partnern in Taiwan, Japan, Italien, USA und Deutschland nun zeigen konnte. Das Wort „chiral“ kommt vom altgriechischen „cheir“ für Hand. „Diese Kristallstrukturen besitzen keine Spiegelebene, ihre Struktur ist entweder links- oder rechtshändig – so wie die menschliche Hand. Man kann sie drehen und wenden, sie sind und bleiben spiegelbildlich verschieden“, erklärt Dr. Tusche. Chiralität kommt in der Natur häufig vor. Auch Zuckermoleküle, Aminosäuren und die DNA sind chiral aufgebaut.
Mithilfe hochauflösender Impulsmikroskopie und zirkular polarisiertem Licht gelang es den Forscherinnen und Forschern erstmals, die Bahndrehimpulse in dem chiralen Halbleiter präzise aufzulösen – sowohl im Inneren des Kristalls als auch auf seiner Oberfläche. Für die Messungen nutzten sie das Impulsmikroskop NanoESCA, das das Forschungszentrum Jülich am Elettra-Synchrotron im italienischen Triest betreibt. Dabei entdeckten sie, dass die Händigkeit des Kristalls – also ob er links- oder rechtshändig ist – den Bahndrehimpuls der Elektronen auf vorhersehbare Weise beeinflusst.
Neuer Link zwischen Kristallstruktur und Elektron
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Struktur des Kristalls direkt auf den Bahndrehimpuls der Elektronen übergeht – ein Effekt, den wir direkt messen konnten. Das öffnet eine völlig neue Tür für die Materialforschung und die Informationsverarbeitung“, betont die Jülicher Experimentalphysikerin Dr. Ying-Jiun Chen.
Dr. Dongwook Go, theoretischer Physiker am Jülicher Peter Grünberg Institut (PGI-1), betont: „Die Entdeckung ist besonders wichtig für das neu entstehende Gebiet der Orbitronik, die den Bahndrehimpuls als Informationsträger für die nächste Generation der Quantentechnologie nutzt.“
Ein charakteristisches Merkmal der resultierenden Bahndrehimpuls-Textur sind unterschiedlich ausgebildete Fermi Arcs: offene, bogenförmige Strukturen, die in sogenannten Impulsraum-Darstellungen, wie sie die Impulsmikroskopie erzeugt, sichtbar werden. Für die Anwendung eröffnet das neue Perspektiven: Informationen könnten künftig nicht mehr nur über die Ladung oder den Spin des Elektrons, sondern auch über die Richtung und Orientierung des Bahndrehimpulses übertragen und gespeichert werden. Diese sogenannten Orbitronik – also Elektronik auf Basis orbitaler Eigenschaften – könnte somit die Grundlage bilden für eine ganz neue Klasse elektronischer Bauelemente.
Potenzial für unterschiedliche Anwendungen
Die EU fördert die Entwicklung dieser Zukunftstechnologie im Rahmen des EIC-Pathfinder-Projekts OBELIX, an dem auch Prof. Yuriy Mokrousov von der Universität Mainz beteiligt ist. Der theoretische Physiker ist gleichzeitig Gruppenleiter am Jülicher Peter Grünberg Institut (PGI-1) und steuerte grundlegende theoretische Modelle für die jüngste Entdeckung bei.
Auch Prof. Claus Michael Schneider sieht große Chancen. „Es scheint beispielsweise denkbar, mithilfe des Bahndrehimpulses als Informationsträger Informationen zu transportieren. Oder möglicherweise kann man zirkular polarisiertes Licht verwenden, um die Chiralität eines Kristalls gezielt zu beeinflussen und so einen nicht-mechanischen Schalter als Alternative zum Transistor zu erhalten, der aber lichtgesteuert ist. Und durch Kopplung zwischen Bahndrehimpuls und Spin könnte der Effekt in bestehende Spintronik-Konzepte integriert werden – etwa für hybride Quantenbauelemente so der Direktor des Peter Grünberg Instituts für Elektronische Eigenschaften (PGI-6) am Forschungszentrum Jülich.“
Kenta Hagiwara, Ying-Jiun Chen, Dongwook Go, Xin Liang Tan, Sergii Grytsiuk, Kui-Hon Ou Yang, Guo-Jiun Shu, Jing Chien, Yi-Hsin Shen, Xiang-Lin Huang, Iulia Cojocariu, Vitaliy Feyer, Minn-Tsong Lin, Stefan Blügel, Claus Michael Schneider, Yuriy Mokrousov & Christian Tusche
Orbital Topology of Chiral Crystals for Orbitronics
Adv. Mater. (2025), DOI: https://doi.org/10.1002/adma.202418040
https://www.fz-juelich.de/de/aktuelles/news/pressemitteilungen/2025/vergessene-e... Pressemitteilung online auf der Website des Forschungszentrums Jülich
Blick ins Impulsmikroskop NanoESCA
Forschungszentrum Jülich
Bahndrehimpuls-Texturen mit spiegelbildlichen Fermi-Arcs, die durch die von der Händigkeit des Krist ...
K. Hagiwara, Y.-J. Chen, D. Go, Advanced Materials 2025, https://doi.org/10.1002/adma.202418040, CC BY 4.0
Criteria of this press release:
Journalists
Electrical engineering, Information technology, Materials sciences, Physics / astronomy
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
Blick ins Impulsmikroskop NanoESCA
Forschungszentrum Jülich
Bahndrehimpuls-Texturen mit spiegelbildlichen Fermi-Arcs, die durch die von der Händigkeit des Krist ...
K. Hagiwara, Y.-J. Chen, D. Go, Advanced Materials 2025, https://doi.org/10.1002/adma.202418040, CC BY 4.0
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