idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
05/27/2025 09:27

Mehr als die Hälfte der Politiker*innen wurde im Rahmen ihres Engagements schon Opfer von Aggressionen oder Gewalt

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    27.05.2025

    Neue Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen

    Mehr als die Hälfte der Politiker*innen wurde im Rahmen ihres Engagements schon Opfer von Aggressionen oder Gewalt

    Rund sechs von zehn Politiker*innen in Deutschland sind im Verlaufe ihres politischen Engagements bereits mindestens einmal Opfer von Aggressionen oder sogar von körperlicher Gewalt geworden. Das ergibt sich aus einer neuen, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Knapp die Hälfte hat nach eigenen Angaben auch in den sechs Monaten vor der Befragung mindestens einmal Aggressionen und/oder Gewalt erlebt.

    Die Ergebnisse der zwischen Mai 2024 und Februar 2025 durchgeführten Online-Befragung geben nach Einschätzung des KFN-Projektteams einen detaillierten Einblick in ein Problemfeld, das von einem großen Dunkelfeld geprägt ist. Von 1479 Politiker*innen, die in der Kommunalpolitik, auf Landes- oder Bundesebene aktiv sind, konnten Daten zu Aggressions- und Gewalterfahrungen und deren individuellen und politischen Folgen ausgewertet werden. Auch wenn die Repräsentativität der Ergebnisse auf Grund einer niedrigen Teilnahmebereitschaft etwas eingeschränkt ist, erlauben statistische Gewichtungen, einige Verzerrungen der Ergebnisse zu verringern, wobei jedoch von einer Überrepräsentation von betroffenen Politiker*innen auszugehen ist.

    Am häufigsten erlebten Politiker*innen Beleidigungen und verbale Diskriminierungen (gut jede*r Zweite), Verleumdungen (gut ein Drittel) und soziale Ausgrenzungen. Etwa jede*r Siebte war auch von Sachbeschädigungen, etwa jede*r Achte auch von Bedrohungen betroffen, etwa jede*r Dreizehnte auch von sexualisierten Aggressionen und sexualisierter Gewalt. Sechs Prozent der Politiker*innen sind im Zusammenhang mit ihrem politischen Engagement Opfer von tätlichen Angriffen geworden. Bei etwa jeder*m achten Politiker*in mit Aggressions- und/oder Gewalterfahrungen in den sechs Monaten vor der Befragung war bei mindestens einer Tat auch das private Umfeld betroffen, beispielsweise Partner*innen oder Kinder (alle Daten detailliert als Grafiken in einem Factsheet des KFN; Link unten).

    Die meisten Politiker*innen, die Zielscheibe von Aggressionen oder Gewalt geworden sind, verarbeiteten die Erfahrung im Austausch mit ihrem persönlichen oder engen politischen Umfeld. Etwa ein Drittel hat über mindestens eine in den sechs Monaten vor der Befragung erlebte Aggressions- oder Gewalterfahrung gar nicht gesprochen. Etwa drei von zehn Betroffenen haben dagegen Angriffe öffentlich gemacht, 13 Prozent haben wenigstens eine der Taten angezeigt.

    Jede*r Fünfte der Politiker*innen mit Aggressions- oder Gewalterfahrung gab an, deshalb im politischen Engagement zurückgesteckt zu haben und beispielsweise weniger aktiv im Wahlkampf zu sein oder sich weniger zu kontroversen Themen zu äußern.

    „Trotz gewisser methodischer Grenzen: Die Ergebnisse zeigen leider auf jeden Fall, dass Aggressionen und Gewalterfahrungen für politisch Engagierte kein Randphänomen sind, sondern weit verbreitet“, sagt Christina Schildmann, die Leiterin der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. „Die Polarisierung der politischen Auseinandersetzung hat drastische Folgen – für die direkt Betroffenen, aber auch weit darüber hinaus: Mit jeder Beleidigung und erst recht mit jeder Bedrohung, jedem physischen Angriff wächst das Risiko einer Lähmung demokratischer Institutionen. Das schwächt den demokratischen Prozess sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.“

    Die neuen Befragungsergebnisse unterstreichen eine Problematik, die beispielsweise auch Auswertungen des Bundeskriminalamts zeigen: Für 2024 meldete das BKA vergangene Woche einen deutlichen Anstieg politisch motivierter Straftaten, von denen insgesamt gut die Hälfte dem rechten Spektrum zugeordnet wurden. Die BKA-Statistik verzeichnet für 2024 gut 6.000 Straftaten gegen „Amts- und Mandatsträger“ – auch hier ein deutlicher Zuwachs gegenüber dem Jahr zuvor. Im Kontext der Wahlen 2024 waren Politiker*innen oder Einrichtungen der Grünen am häufigsten Ziel von Straftaten, gefolgt von AfD und SPD. Bekannt gewordene Fälle von Angriffen werden gesellschaftlich breit diskutiert, insbesondere Gewaltverbrechen wie der Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) durch einen Rechtsextremen – oder wenn sich prominente Politiker*innen wie etwa die frühere Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, der ehemalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz (beide CDU) oder der frühere SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert aus der Politik zurückziehen und das auch mit einem Klima der Aggression begründen.

    Das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte KFN-Forschungsprojekt „Aggressionen und Gewalt gegen Politiker*innen in Deutschland. Formen, Verbreitung und Folgen für Individuum und Gesellschaft“ beschäftigt sich mit der Frage nach dem Vorkommen, der Formen und Folgen von Aggressionen und Gewalt gegen Politiker*innen in Deutschland aus verschiedenen Perspektiven. Die Online-Befragung ist der erste Teil einer wiederholten Befragung, aus dem nun Ergebnisse vorliegen. Eine erneute Befragung der Teilnehmer*innen im Abstand von 6 Monaten zur Erstbefragung läuft aktuell, insbesondere auch, um die mittelfristigen Folgen besser untersuchen zu können. Darüber hinaus wurden u.a. 21 Interviews mit von Aggressionen und/oder Gewalt betroffenen Politiker*innen aller politischer Ebenen und aller zum Erhebungszeitpunkt im Bundestag vertretenen Parteien geführt, um einen vertieften Einblick in das individuelle Erleben betroffener Politiker*innen zu bekommen.

    Weitere Informationen zum Forschungsprojekt und detaillierte Ergebnisse:

    -Wer hat teilgenommen?-

    Insgesamt wurden 22.264 Politiker*innen zur Befragung eingeladen, nach Datenbereinigung konnten die Antworten von 1.479 Personen ausgewertet werden. Die Rücklaufquote lag dementsprechend bei 6,6 Prozent. Im Folgenden werden für alle Häufigkeitsangaben Schätzungen für die Population der Politiker*innen in Deutschland auf Basis der gewichteten Stichprobe berichtet. Die Mehrheit der Politiker*innen war zum Befragungszeitpunkt auf Kommunalebene (rund 99 Prozent) tätig. Weitere 1 Prozent waren auf Landes- und 0,4 Prozent auf Bundesebene tätig. 66 Prozent der Politiker*innen sind nach eigener Angabe männlich, 33 Prozent weiblich. Auf Grund des hohen Anteils an Kommunalpolitiker*innen ist ein großer Anteil der Politiker*innen parteilos (31%) bzw. gehört kleineren, in der Befragung nicht gesondert erfassten Parteien an (6%). Die weiteren Politiker*innen verteilen sich auf CDU/CSU (21 %), SPD (16 %), Bündnis 90 / Die Grünen (12 %), die AfD (3 %), die Freien Wähler (7 %), die FDP (2%) und die Linke (1%).

    -Wie viele Politiker*innen haben welche Art von Aggressionen und Gewalt erlebt?-

    Basierend auf den gewichteten Daten der Stichprobe ergibt sich ein geschätzter Wert von etwa 61 Prozent der Politiker*innen in Deutschland, die während ihrer politischen Laufbahn bereits mindestens einmal von Aggressionen und Gewalt betroffen waren. Knapp die Hälfte (46 %) hat dabei auch in den sechs Monaten vor der Befragung mindestens einmal Aggressionen und/oder Gewalt erlebt. Verbale Aggressionen kommen weitaus am häufigsten vor, aber auch körperliche Angriffe, sexuelle Aggressionen und Sachbeschädigungen sind keine Einzelfälle (siehe Abbildung 1 im KFN-Factsheet; Link unten).

    -Worauf zielten die Aggressions- und Gewalterfahrungen ab?-

    Die Teilnehmenden wurden befragt, worauf die erlebten Aggressionen und Gewalttaten der letzten sechs Monate vor der Befragung ihrer Einschätzung nach abzielten. In den meisten Fällen wurde die erlebte Gewalt als auf die eigenen sachpolitischen inhaltlichen Positionen (52 %), die eigene Parteizugehörigkeit (51 %) oder eigene konkrete politische Äußerungen (44 %) abzielend erlebt. Konkrete Merkmale der Person wurden hingegen deutlich weniger als Ziel von Aggressionen und Anfeindungen wahrgenommen. Am häufigsten wurde hier das Geschlecht als wahrgenommenes Ziel genannt (16 %, siehe Abbildung 2 im KFN-Factsheet).

    -Wie sind die Betroffenen mit der Aggressions- und Gewalterfahrungen umgegangen?-

    Ungefähr vier von fünf Politiker*innen sprachen nach Aggressions- und/oder Gewalterfahrungen in den letzten sechs Monaten vor der Befragung mit ihrem privaten Umfeld über die Tat. Etwa drei Viertel tauschten sich mit Kolleg*innen aus der Politik über die Taten aus. Ein Drittel gab an, nach mindestens einer der Gewalterfahrungen geschwiegen zu haben bzw. „es mit sich selbst ausgemacht“ zu haben. Drei von zehn Politiker*innen machten die Taten öffentlich. Unterstützungsmöglichkeiten der eigenen Partei oder auch parteiübergreifend zum Umgang mit Gewalterfahrungen nutzten 17 Prozent. Zur Anzeige brachten 13 Prozent der betroffenen Politiker*innen mindestens eine der Taten (siehe Abbildung 3 im KFN-Factsheet).

    -Welcher Zusammenhang besteht zwischen Aggressions- und Gewalterfahrungen und dem psychischen Wohlbefinden?-

    Ein Vergleich von Politiker*innen mit Aggressions- und Gewalterfahrungen in der politischen Laufbahn mit denjenigen ohne solche Erfahrungen zeigt, dass die betroffenen Politiker*innen statistisch signifikant weniger Interesse oder Freude an ihren Tätigkeiten haben, häufiger Gefühle von Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Hoffnungslosigkeit verspüren und sich häufiger nervös, ängstlich oder angespannt fühlen.

    -Inwiefern hat sich das politische Engagement nach Aggressions- und Gewalterfahrungen verändert?-

    Bei der großen Mehrheit von geschätzt 70 Prozent der Politiker*innen mit Aggressions- oder Gewalterfahrung hat sich das politische Engagement nach eigenen Aussagen dadurch nicht verändert. Allerdings berichten auch jeweils um die 20 Prozent, dass sie ihre Äußerungen zu kontroversen Themen, ihre öffentliche Sichtbarkeit, ihre Aktivität im Wahlkampf oder auch ihr Engagement insgesamt reduziert hätten. Opfer von Aggressionen oder Gewalt haben zudem häufiger als nicht Betroffene schon an einen Rückzug aus der Politik gedacht. Ein (geringerer) Teil von jeweils etwa einem Zehntel der Betroffenen reagiert hingegen deutlich anders und erklärt, als Konsequenz das politische Engagement intensiviert zu haben. Etwa jede*r Fünfte gibt an, als Folge von Aggressions- oder Gewalterfahrungen verstärkt Allianzen mit anderen Politiker*innen eingegangen zu sein (siehe Abbildung 4 im KFN-Factsheet).


    Contact for scientific information:

    Dr. Stefan Lücking
    Abteilung Forschungsförderung
    Tel.: 0211-7778-175
    E-Mail: Stefan-Luecking@boeckler.de

    Rainer Jung
    Leiter Pressestelle
    Tel.: 0211-7778-150
    E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de


    Original publication:

    Factsheet des KFN: https://kfn.de/wp-content/uploads/2025/05/Factsheet-erste-Ergebnisse-der-Dunkelf...


    Images

    Criteria of this press release:
    Journalists
    Economics / business administration, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).