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05/30/2025 11:30

Genetisch bedingte ALS: Elf Jahre nach der „Ice Bucket Challenge“ gibt es Anlass zur Hoffnung

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Seit der „Icebucket-Challenge“ 2014 hat sich die öffentlich Aufmerksamkeit kaum auf das Thema ALS gerichtet, wohl auch, weil alle Therapiestudien negativ ausfielen und die Erkrankung unbesiegbar erschien. Nun aber hat sich etwas getan. Noch ist es zu früh, um von einem Durchbruch zu sprechen, aber es ist mehr als nur ein vager Hoffnungsschimmer: Eine Forscher-initiierte, multizentrische Fallserie deutet darauf hin, dass ein bestimmter, genetisch bedingter ALS-Typ erfolgreich mit Antisense-Oligonukleotiden behandelt werden könnte. Ein früher Therapiebeginn scheint dabei für den Erfolg entscheidend sein. Klinische Studien zu dieser genexpressionsmodulierenden Therapie müssen nun zügig folgen.

    Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine fortschreitende Erkrankung des motorischen Nervensystems, sie geht mit der Degeneration der motorischen Nervenbahnen (sogenanntes erstes und zweites Motoneuron) einher. Die Prävalenz in Deutschland beträgt ca. 3-8 von 100.000 Menschen, die Inzidenz (Neuerkrankungsrate) liegt jährlich bei 2-3 pro 100.000. Damit ist die ALS gar nicht so selten, wie viele denken. Die Inzidenz der Multiplen Sklerose, beispielsweise, beträgt 3,5 pro 100.000. Doch das Besorgniserregende ist: Die ALS-Neuerkrankungsrate scheint stetig anzusteigen. Sie erhöhte sich in Europa von 2,83 pro 100.000 Einwohner im Zeitraum 1995 bis 2004 auf 3,23 im Zeitraum 2005-2014 [1].

    Kaum eine andere Krankheit ist so sehr gefürchtet: Es kommt zu Muskelschwund, Muskelschwäche und im Verlauf Lähmungen. Später ist auch die Muskulatur im Kopf-Halsbereich betroffen, wodurch Probleme beim Kauen, Schlucken und Sprechen entstehen. Wenn die Atemmuskulatur schwächer wird, drohen Lungenentzündungen und eine chronische Sauerstoffunterversorgung des Körpers. Eine kurative Therapie gibt es bisher noch nicht; mit dem Medikament Riluzol wird in Sinne einer „krankheitsmodifizierenden Therapie“ versucht, das Fortschreiten zu verlangsamen. In erster Linie ist die Behandlung aber symptomatisch, um Beschwerden (z. B. Muskelkrämpfe) zu lindern und Komplikationen vorzubeugen.

    Bis zu 15 % der Fälle sind genetisch bedingt, bei den restlichen 85 % ist bislang aber keine eindeutige Ursache nachweisbar. Jetzt gibt es berechtigte Hoffnung, dass nun für eine Gruppe der Betroffenen mit genetischer ALS eine wirksame Therapie zur Verfügung stehen könnte. Es handelt sich um die Patientinnen und Patienten, bei denen die Erkrankung auf eine Mutation im sog. FUS-Gen zurückzuführen ist, das bei der DNA-Reparatur und dem RNA-Metabolismus beteiligt ist. Diese Mutationen gehen mit einer sehr aggressiven Erkrankungsform einher, die oft bereits in jüngeren Jahren auftritt (die Erkrankung beginnt häufig erst nach dem 65. Lebensjahr). Die Mutationen auf dem FUS-Gen führen zu einer „Gain-of-Function“-Toxizität, in Folge derer es zu einer Bildung unlöslicher Proteinaggregate kommt, welche wiederum den Neuronenuntergang verursachen.

    Wie wirkt die Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden (ASOs)? Beim DNA-Ableseprozess wird im Zellkern immer zunächst Messenger-RNA (mRNA) gebildet, die sozusagen als Matrize für die Proteinsynthese dient. Bei dem Therapieansatz mit sogenannten Antisense-Oligonukleotiden (ASOs) wird diese Matritze und durch synthetisch hergestellte spiegelbildliche mRNA-Bausteine (Antisense-Oligonukleotide) spezifisch gehemmt. Das mutante FUS-Gen wird durch das ASO Jacifusen praktisch stillgelegt („gene silencing“). Die Therapie greift somit an der Krankheitsursache an.

    Eine aktuelle Fallserie gibt nun Anlass zur Hoffnung, dass Jacifusen den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann: Zwölf Patientinnen und Patienten (median 26 Jahre alt, 58 % weiblich) wurden in ein Studienprogramm an fünf Standorten (vier Krankenhäuser in den USA und eines in der Schweiz) aufgenommen. Alle hatten eine FUS-Variante und wiesen klinische Anzeichen einer beginnenden Motoneuronerkrankung oder elektrophysiologische Anomalien auf, sofern keine ALS diagnostiziert wurde. Die Beatmung über Tracheostoma war ein Ausschlusskriterium. Die Studienteilnehmenden erhielten über einen Zeitraum von 2,8 – 33,9 Monaten Jacifusen. Da ASOs die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren können, wird das Medikament intrathekal (d. h. in den in den Liquorraum) injiziert. Die Dosis wurde mit dem Vorliegen neuer Sicherheitsdaten im Studienverlauf hochtitriert – von anfangs 20 mg bis 120 mg, wobei die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zuletzt in die Studie aufgenommen wurden, von Beginn an monatlich eine Dosis von 120 mg erhielten. Die Sicherheit wurde anhand der „Common Terminology Criteria for Adverse Events“, Version 4.0, und anhand von Standardmessungen der Liquorflüssigkeit (CSF) bewertet. Die Konzentration der Neurofilament-Leichtkette (NfL) im Liquor wurde als Biomarker für axonale Schädigung und Neurodegeneration verwendet, und der „ALS Functional Rating Scale-Revised“ (ALSFRS-R) Score wurde als Gesamtmaß für die motorische Funktion herangezogen. Im Studienverlauf kam es zu zwei Todesfällen, die nach Ansicht der Studienautorinnen und -autoren aber nicht mit dem Prüfpräparat in Zusammenhang standen. An postmortalem ZNS-Gewebe wurden biochemische Analysen und immunhistochemische Färbungen durchgeführt, um die FUS-Proteinexpression zu quantifizieren und die Belastung durch die FUS-Pathologie zu bewerten.

    Die NfL-Konzentration im Liquor wurde nach sechsmonatiger Behandlung um bis zu 82,8 % gesenkt – und könnte, so die Expertinnen und Experten, als Surrogatmarker für die ALS-Progression herangezogen werden. Biochemische und immunhistochemische Analysen von ZNS-Gewebeproben von vier Teilnehmern zeigten reduzierte FUS-Proteinspiegel und eine offensichtliche Abnahme der Belastung durch FUS-Pathologie.

    Wie übersetzten sich die Laborbefunde in klinische Ergebnisse? Bei den meisten Teilnehmenden kam es nach Beginn der Behandlung mit Jacifusen zwar weiterhin zu einer funktionellen Verschlechterung (gemessen anhand des ALSFRS-R), aber bei einer Teilnehmerin wurde nach zehn Monaten eine objektive funktionelle Erholung dokumentiert. Sie war mit 16 Jahren die jüngste Patientin in der Fallserie und erhielt die Therapie früh im Krankheitsverlauf. Ein weiterer Patient war zu Studienbeginn asymptomatisch und blieb es über drei Jahre, wobei auch eine Verbesserung der elektromyografischen Anomalien dokumentiert wurde. Aufgrund dieser Ergebnisse und der relativ guten Verträglichkeit, sollen nun Phase-2- und -3-Studien aufgelegt werden.

    Prof. Dr. Tim Hagenacker, Essen, Sprecher der DGN-Kommission Motoneuron- und Neuromuskuläre Erkrankungen ordnet die Ergebnisse so ein: „Je genauer wir die Patientinnen und Patienten genetisch charakterisieren und selektieren, desto mehr Aussicht auf Erfolg besteht. Auch scheint der Zeitpunkt der Therapieinitiierung Einfluss auf das Therapieergebnis zu nehmen. Perspektivisch wird eine Früherkennung von Patientinnen und Patienten mit hohem genetischen Risiko entscheidend sein, derzeit wird bereits an Bluttests auf ALS gearbeitet.“

    Prof. Dr. Peter Berlit, DGN-Generalsekretär, hebt hervor: „In jedem Fall stellt die aktuelle Fallserie einen Meilenstein dar und zeigt, dass eine Gentherapie bei ausgewählten Patientinnen und Patienten wirksam sein kann. Weitere Studien müssen nun klären, welche Betroffenen besonders von der Therapie profitieren, um die Behandlung weiter personalisieren zu können.“ Er verweist in dem Zusammenhang auf eine kürzlich publiziertes Konsensuspapier aus Deutschland [3], das eine neue Einteilung von Phänotypen der ALS vorgenommen hat.

    [1] Chiò A, Mora G, Moglia C et al.; Piemonte and Valle d’Aosta Register for ALS (PARALS). Secular Trends of Amyotrophic Lateral Sclerosis: The Piemonte and Valle d'Aosta Register. JAMA Neurol. 2017 Sep 1;74(9):1097-1104. doi: 10.1001/jamaneurol.2017.1387
    [2] Shneider NA, Harms MB, Korobeynikov VA, Rifai OM, Hoover BN, Harrington EA, Aziz-Zaman S, Singleton J, Jamil A, Madan VR, Lee I, Andrews JA, Smiley RM, Alam MM, Black LE, Shin M, Watts JK, Walk D, Newman D, Pascuzzi RM, Weber M, Neuwirth C, Da Cruz S, Soriano A, Lane R, Henry S, Mathews J, Jafar-Nejad P, Norris D, Rigo F, Brown RH, Miller S, Crean R, Bennett CF. Antisense oligonucleotide jacifusen for FUS-ALS: an investigator-initiated, multicentre, open-label case series. Lancet. 2025 May 22:S0140-6736(25)00513-6. doi: 10.1016/S0140-6736(25)00513-6. Epub ahead of print. PMID: 40414239.
    [3] Meyer T, Boentert M, Großkreutz J et al. Motor phenotypes of amyotrophic lateral sclerosis - a three-determinant anatomical classification based on the region of onset, propagation of motor symptoms, and the degree of upper and lower motor neuron dysfunction. Neurol Res Pract. 2025 Apr 28;7(1):27

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    Pressesprecher: Prof. Dr. Peter Berlit
    Leiterin der DGN-Pressestelle: Dr. Bettina Albers
    Tel.: +49(0)174 2165629
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren 13.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. Daniela Berg
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    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
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    Geschäftsstelle: Budapester Str. 7/9, 10787 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Original publication:

    doi: 10.1016/S0140-6736(25)00513-6


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine
    transregional, national
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