Die Historikerin Dr. Malin Wilckens vom IEG in Mainz hat den Johannes Zilkens-Promotionspreis der Studienstiftung des Deutschen Volkes für „herausragende Dissertationen in den Geisteswissenschaften“ erhalten. In ihrer Doktorarbeit zeichnet sie nach, wie Wissenschaftler den menschlichen Schädel im 19. Jahrhundert zum sammel-, mess- und vergleichbaren Objekt machten und dadurch auch zum maßgeblichen Kriterium, um Menschen und Menschengruppen zu unterscheiden und zu kategorisieren. Die Arbeit mit dem Titel „Schädelvergleiche und die Ordnung der Welt“ versteht sich als Beitrag, um die „Rassifizierung in der Wissenschaft (1780–1880)“, so der Untertitel, zu erhellen.
„Über die Wertschätzung für meine Arbeit habe ich mich sehr gefreut,“ sagte Wilckens nach der Preisverleihung, „ich habe nicht damit gerechnet.“ Umso größer war die Freude, dass eine interdisziplinär besetzte Preisjury ihre geschichtswissenschaftliche Arbeit würdigte. In der Begründung hob die Jury besonders die methodische Qualität der Arbeit hervor, in der Wilckens „auf innovative Weise Praxistheorie und globale Mikrogeschichte“ miteinander verbinde. Die Verleihung des mit 5000 Euro dotierten Preises fand am 19. Mai bei einer Festveranstaltung der Studienstiftung in Berlin statt.
Wilckens untersucht in drei Fallstudien, wie die Anatomen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) in Göttingen, Samuel George Morton (1799–1851) in Philadelphia und Paul Broca (1824–1880) in Paris über Netzwerke von Sammlern an Schädel kamen und wie sie diese miteinander verglichen. Neu daran ist, dass Wilckens die Praktiken des Sammelns, die bisher wenig beachtet wurden, zusammen mit den Praktiken des Vergleichens analysiert. Da ihre Protagonisten zumeist nicht selber sammelten, sondern auf ein großes Netzwerk verschiedener Akteure angewiesen waren, hätten sie manchmal ein oder zwei Jahre lang auf einen Schädel aus einer bestimmten Region gewartet, um eine These überprüfen zu können. Dabei habe auch der Zufall eine große Rolle gespielt. Der Begriff der „kaukasischen Rasse“ etwa sei von Blumenbach geprägt worden, weil er 1793 an einen besonders gut erhaltenen Schädel aus dem Kaukasus gekommen sei, der für ihn die Herkunft der Europäer aus dem Kaukasus nahelegte.
Wilckens rekonstruiert die Praktiken des Sammelns, Messens und Vergleichens anhand der Briefe, Korrespondenzen und Schriften der drei Forscher. Dadurch kann sie zum einen zeigen, wie sich im Laufe der Zeit eine neue Praxis des Schädelsammelns etablierte, die sich aus botanischen Sammelpraktiken entwickelte. Zum anderen beschreibt sie, wie die Schädel durch das Vermessen „verobjektiviert“ wurden. Bei der Klassifikation von ‚Rassen‘ sei dabei eine Verschiebung weg von der Hautfarbe und hin zum Schädel als dem entscheidenden Kriterium erfolgt. Die Kombination verschiedener „Wissenspraktiken“ habe die Ausformung von ‚Rassen‘-Theorien befördert.
Anhand der drei Fallstudien zeigt Wilckens weiter, dass die Rassifizierung der Wissenschaft ein transnationales Phänomen war, das mit spätaufklärerischen, kolonialen und imperialen Interessen in engem Zusammenhang zu sehen ist. Zum einen schlage sich darin eine asymmetrische Beziehung Europas und der USA zu anderen Teilen der Welt nieder, zum anderen habe eine Nationalisierung und Popularisierung wissenschaftlicher Methoden auch innerkontinentale Differenzierungen begründet. ‚Rasse‘-Kategorien seien daher nicht stabil gewesen, sondern über Vergleichspraktiken ständig neu ausgehandelt worden. Der Schädel diente hierbei als relativ stabiles Vergleichsobjekt, dem unterschiedliche ‚rassische‘ Eigenheiten zugeschrieben werden konnten.
Wilckens begann mit der Erforschung des Themas vor fünf Jahren, als etliche Schädelsammlungen noch öffentlich zugänglich waren. „Das kann man sich heute schon gar nicht mehr vorstellen,“ merkt sie mit Blick auf die aktuelle Debatte um die Repatriierung menschlicher Überreste und die Restitution von Kunstgegenständen an. Auf das Thema wurde sie im Zuge von Recherchearbeiten an der Universität Bielefeld aufmerksam, wo sie auch mit dem Sonderforschungsbereich „Praktiken des Vergleichens“ assoziiert war. Am IEG in Mainz forscht Wilckens zur Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte. Unter anderem beschäftigt sie sich mit Praktiken des Unterscheidens bei der Erforschung der Frühgeschichte des Menschen und mit der Geschichte des Streichholzes.
PD Dr. Manfred Sing, Forschungskoordinator, Telefon: +49 6131 39 39 475, E-Mail: sing@ieg-mainz.de
Dr. Malin S. Wilckens, E-Mail: wilckens@ieg-mainz.de
Criteria of this press release:
Journalists
History / archaeology
transregional, national
Contests / awards, Research results
German
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