Internationale Studie der Uni Münster zu Prozessen religiöser Sozialisation in Familien – „Weitergabe von Nicht-Religiosität ist in Ostdeutschland der Normalfall und steigt auch in übrigen westlichen Gesellschaften“ – Umfangreiche neue Daten und Erklärungen zu Faktoren der religiösen Erziehung – „Religiöse Sozialisierung gelingt, wenn alle Generationen zusammenwirken“ – Große Ost-West-Unterschiede – Neues Buch „Families and Religion“
Ob Menschen religiös oder nicht-religiös werden, hängt in Zeiten des gesellschaftlichen Rückgangs von Religion nach einer internationalen Studie der Uni Münster entscheidend von der Familie ab. „Unsere Umfragen und Familieninterviews in Deutschland, Finnland, Italien, Kanada und Ungarn zeigen, dass Religion in allen Ländern vor allem dann an die jüngere Generation weitergegeben wird, wenn die Familie ein religiöses Selbstverständnis pflegt, gemeinsam religiösen Praktiken wie Gebet oder Singen nachgeht und beide Eltern dieselbe Konfession haben – die wichtigste Rolle spielen in der religiösen Erziehung die Mütter“, erläutern die Religionssoziologinnen Christel Gärtner und Linda Hennig und ihr Fachkollege Olaf Müller vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“, dem Centrum für Religion und Moderne (CRM) und dem Institut für Soziologie. „Außerhalb der Familie sind Kirchen, Gemeinden und ihr Personal nach wie vor nicht zu unterschätzen. Regelmäßige Kommunikation mit einer religiösen Autorität trägt stark dazu bei, ob ein Mensch die religiöse Familientradition beibehält.“ Religiöse Einrichtungen böten Raum für religiöse Reflexion, Austausch und kreative Aktivitäten. „Zugleich werden die Faktoren, die die Weitergabe von Religion begünstigen, immer seltener. In einem zunehmend säkularen Umfeld sind Eltern selbst immer weniger religiös, geben also immer öfter Nicht-Religion weiter oder lassen ihren Kindern die freie Wahl.“
Dass kirchlich gebundene Religiosität in westlichen Ländern von Generation zu Generation abnimmt, ist in der Forschung unumstritten. Weniger klar war bislang, wie genau sich diese Entwicklung vollzieht. Die Studie liefert auf der Basis quantitativer und qualitativer Untersuchungen genauere Daten und Erklärungen zur Frage, wovon die Weitergabe von Religion inner- und außerhalb von Familien abhängt und wie sich der Prozess gestaltet. „Ein wesentlicher Befund ist, dass Religion nie eins zu eins weitergegeben wird, sondern sich dabei stets transformiert: Wo Eltern und Großeltern religiöse Gemeinschaft, Gemeinwohlorientierung und Spiritualität im Gottesdienst erleben, identifizieren ihre Kinder diese Dimensionen etwa in der säkularen Partyszene.“ Das internationale Forschungsteam aus 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern befragte im Rahmen der Studie, die die US-amerikanische John Templeton Foundation gefördert hat, christliche und nicht-christliche Familien in Europa und Kanada in repräsentativen Erhebungen sowie in Interviews mit Familienmitgliedern aus drei Generationen. Die Ergebnisse sind im englischsprachigen Buch „Families and Religion. Dynamics of Transmission across Generations“ im Campus Verlag veröffentlicht.
„Immer öfter wird Nicht-Religiosität weitergegeben“
Die untersuchten Länder, Deutschland, Italien, Ungarn, Finnland und Kanada, haben gemeinsam, dass sie christlich geprägt sind und Prozesse der Säkularisierung durchlaufen, wie Olaf Müller ausführt. „Allerdings unterscheiden sie sich im Ausmaß und in der zeitlichen Entwicklung, was sich auch in unseren Befunden zur familialen Weitergabe zeigt: Am frühesten setzte der Abbruch der familialen Weitergabe in Ostdeutschland ein, was sich schon deutlich in der ältesten von uns befragten Altersgruppe der bis 1948 Geborenen erkennen lässt. Bei den jüngsten von uns Befragten, also den zwischen 1985 und 2003 Geborenen, kommt sogar bereits jeder oder jede zweite aus einer Familie, in der schon die Eltern konfessionslos waren. Im Westen ist hingegen auch unter den jüngsten Befragten mit etwa 70 % die Gruppe am stärksten, in der diese selbst sowie mindestens ein Elternteil einer Konfession angehören, in der also Religion an die nächste Generation weitergegeben wurde.“ Grund für den Ost-West-Unterschied sei unter anderem die anti-religiöse Politik in der DDR. „Das macht beispielhaft den großen Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Umstände deutlich: Wenn Gesellschaften sich liberalisieren und säkularisieren oder die Weitergabe von Nicht-Religiosität sogar der gesellschaftliche Normalfall wird, wie es in Ostdeutschland schon seit langem der Fall ist, wird es für Eltern immer schwieriger, eine religiöse Erziehung der Kinder überhaupt noch zu rechtfertigen und ihre Religion an sie weiterzugeben“, so Müller.
Ob ein junger Mensch religiös wird, entscheidet sich der Studie zufolge vor allem in der Adoleszenz, also zwischen Kindheit und Erwachsensein. „In dieser Phase entwickeln Menschen ein autonomes Urteilsvermögen, reflektieren die erworbene religiöse Praxis der Familie und nehmen oftmals kritische Distanz dazu ein“, sagt Christel Gärtner. In allen westlichen Ländern zeigten sich veränderte Erziehungsideale seit den 1980er Jahren: „Eltern folgen zunehmend einem liberalen Erziehungsideal und fördern die persönliche Entwicklung und Entscheidungsfähigkeit ihrer Kinder. Das betrifft auch den religiösen Bereich. So überlassen sie ihnen, den getauften und nicht getauften Kindern, die Entscheidung, ob sie sich konfirmieren lassen wollen. Die Weitergabe von Religion ist besonders wahrscheinlich in einer Konstellation, in der alle Generationen an einem Strang ziehen, also neben den Eltern auch die Großeltern zur religiösen Erziehung der Kinder beitragen. Die Großeltern können den religiösen Einfluss der Eltern jedoch nicht kompensieren, wenn dieser fehlt.“
Kontinuität bei Werten wie Solidarität und Toleranz
Festgestellt hat das Forschungsteam auch, dass sich in der religiösen Sozialisierung meist diejenige Position durchsetzt, die am stärksten vertreten wird. Das gilt auch für nicht-religiöse Überzeugungen. „Wenn etwa der Vater besonders nicht-religiös ist, kann auch er sich als wichtigste Instanz erweisen.“ Während die Forschenden in der religiösen Praxis wie dem Gottesdienstbesuch und der Kirchenbindung Brüche zwischen den Generationen beobachten, herrscht bei den Werten eher Kontinuität: „Werte wie Nächstenliebe, Solidarität oder Toleranz, die die Eltern religiös begründen, werden von den Jüngeren übernommen, sind bei diesen allerdings zu allgemeinen kulturellen und liberalen Werten geworden, die nicht mehr religiös begründet werden.“
Zur internationalen Forschergruppe gehörten insgesamt 21 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Die Teamleitung in den anderen Ländern lag bei Prof. Dr. Kati Tervo-Niemelä von der University of Eastern Finland, Prof. Dr. Gergely Rosta von der Pázmány Péter Catholic University Budapest, Prof. Dr. Roberta Ricucci von der Universität Turin und Prof. Dr. Peter Beyer von der Universität Ottawa. Das Projekt, aus dem die Studie hervorgegangen ist, war am Centrum für Religion und Moderne (CRM) und dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster angesiedelt. (tec/vvm)
Hinweis: Gärtner, Christel/Hennig, Linda/Müller, Olaf (Hg.) (2025): Families and Religion. Dynamics of Transmission across Generations, Frankfurt a.M./New York. ISBN 978-3-593-51994-4.
Prof. Dr. Christel Gärtner
Copyright: exc
Dr. Linda Hennig
Copyright: exc
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Religion, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
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