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07/23/2025 11:00

Wenn Fürsorge an Grenzen stößt: EvH-Forscherinnen diskutieren Rassismus und Diskriminierung im Pflegealltag

Carmen Tomlik Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Evangelische Hochschule Bochum

    Es ist ein leiser Moment auf der Station. Die Pflegekraft steht am Bett einer Patientin, reicht ihr Wasser, prüft den Verband – eine Routine-Situation, eine kleine Geste der Zuwendung. Doch plötzlich: Ein abschätziger Blick, ein spitzer Kommentar: „Sprechen Sie überhaupt richtig Deutsch?“ Es sind Sätze wie dieser, die zeigen, dass Pflege zwar Fürsorge meint, aber nicht frei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist. Pflege soll für alle da sein – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Sprache.

    „Doch in der Realität erleben viele Pflegekräfte, aber auch Patient_innen, rassistische Vorurteile und Ausgrenzung“, erklärt Psychologin Prof. Dr. Çinur Ghaderi von der Evangelischen Hochschule Bochum (EvH Bochum). „Der Anspruch auf Gleichheit trifft dabei oft auf eine Praxis, in der Diskriminierung leider immer wieder stattfindet – und dabei noch viel zu selten benannt und besprochen wird."

    Damit das Thema nicht länger ein Tabu bleibt, haben sich jetzt vier Wissenschaftlerinnen der EvH Bochum zusammengeschlossen, um strukturelle Herausforderungen, mangelnde Sensibilität und fehlende Repräsentation anzugehen. Die Expertinnen für Pflegewissenschaft, Soziale Arbeit, transkulturelle Psychologie und Rassismusforschung bringen dabei ihre unterschiedlichen Perspektiven ein und greifen auch auf internationale Erfahrungen zurück: „Im Pflegealltag beobachten wir schon seit vielen Jahren ein sehr angespanntes Verhältnis, das durch komplexe Faktoren bestimmt wird: Wir haben einerseits Patientengruppen mit unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen, andererseits viele Menschen aus dem Ausland, die bedingt durch den Fachkräftemangel als Pflegerinnen und Pfleger angeworben werden. Die Arbeitsbelastung ist extrem hoch“, erklärt Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Karin Tiesmeyer. Hinzu käme außerdem eine momentan politisch aufgeladene Situation.

    Rassismus hat viele Gesichter

    Diskriminierung in der Pflege ist dabei kein einseitiges Phänomen, das sich nur entlang einfacher Stereotype abspielt. Es sind nicht immer die offensichtlichen Täterrollen, nicht immer „die Alten gegen die Jungen“ oder „die Deutschen gegen die Zugewanderten“. Rassismus hat viele Gesichter und genau das mache es so schwer, ihn zu benennen

    und zu überwinden, so die Forscherinnen. Kaum jemand könne sich ganz freimachen von rassistischen Gedanken über andere Kulturen, die wir zum Teil strukturell erlernt haben. Diese möglicherweise unbewussten Denkmuster gelte es immer wieder zu hinterfragen und dabei die eigene Fachlichkeit zu bewahren. In den Kliniken und Pflegeeinrichtungen gibt es bisher wenig bis gar keine Anlaufstellen oder Austauschformate für diese Belange. „Die Vorkommnisse bleiben oft unbesprochen, das führt natürlich zu Unsicherheiten. Viele wissen nicht, wie sie in solchen Situationen reagieren können, schämen sich, weil sie diskriminiert werden oder weil sie gar nicht reagiert haben“, so Karin Tiesmeyer.

    Schweigen schafft Unsicherheit

    Dies führte auch eine Lehrveranstaltung mit Pflegestudierenden an der EvH zu Tage: „In den sehr offenen Gesprächen mit den Studierenden zeigte sich, dass eigentlich alle schon einmal Diskriminierung in der Pflegearbeit erlebt haben, persönlich oder durch Erzählungen von Kolleg_innen und Patient_innen. In der Ausbildung diese Themen aber bisher keinen Raum finden“, erzählt Rassismusforscherin Mary Lam, die selbst in der Kinderkrankenpflege gearbeitet hat. „Das deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen. Ich hatte auch immer das Gefühl, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte, wenn etwas vorgefallen war.“

    Fakt ist: Der Pflegeberuf muss attraktiver werden, auch für Fachkräfte aus dem Ausland. Dafür braucht es bessere Strukturen, fordert Mary Lam. „Wir können das den Betroffenen nicht selbst überlassen. Pflegekräfte of Color und internationale Fachkräfte erleben immer wieder, wie Hautfarbe, Herkunft oder Sprache die Qualität der Interaktion beeinflussen – oft zum Nachteil. Wenn wir uns nicht damit befassen, riskieren wir, dass sich viele umorientieren und Potential verloren geht.“

    „Close the gap“ als internationales Vorbild

    Auch internationale Erkenntnisse bringen die Forscherinnen in ihre Betrachtung mit ein: „In Australien können wir sehen, was mit Bevölkerungsgruppen passiert, die aufgrund ihrer Herkunft nicht den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem haben wie andere“, erklärt Prof. Dr. Kerstin Walther, die selbst zehn Jahre in Sydney gelebt und geforscht hat. „So hatten etwa die indigenen Aborigines im Schnitt eine 25 Jahre niedrigere Lebenserwartung, weil sie lange Zeit praktisch ausgegrenzt wurden von der Gesundheitsversorgung. Das war für eine Wohlstandsgesellschaft, die sich selbst als multikulturell versteht, ein immenser Schock.“ Diese Entwicklungen liegen in der Vergangenheit. Inzwischen hat die australische Regierung reagiert und versucht mit gezielten Gegenmaßnahmen unter dem Titel „Close the gap!“ die Versorgungslücken zu schließen. „Für uns sind wiederum die Erfahrungen und Daten wertvoll, aus denen wir ableiten können, welche Folgen Ausgrenzung und mangelnde, diversitätsgerechte Versorgung haben können“, so Kerstin Walther.

    Tipps für den Pflegealltag?

    „Haltung – Handlung – Schutz“ sind die Schlüsselbegriffe, die dabei helfen können, kompetent mit unangenehmen Situationen umzugehen. Dahinter verbirgt sich:

    1) Selbst eine respektvolle, empathische, selbstreflektierte, antirassistische Haltung entwickeln und anderen vorleben.
    2) Wenn etwas vorgefallen ist: Situation unterbrechen, nachfragen („Was meinst Du denn damit?“), ggf. Hintergrundinformationen und Hilfe einholen, sich mit anderen austauschen und die Situation abschließend aufklären.
    3) Schutz für die Zukunft durch Deeskalationstrainings, Fortbildungen und Maßnahmen, die den Zusammenhalt im Team stärken, eine sensibilisierte Leitungsebene und Sicherheit für „Whistleblower“

    Die vier Forscherinnen sind sich einig: Um langfristig Verbesserungen anstoßen zu können, müssen die Probleme auf den Tisch und offen besprochen werden. Dafür brauche es strukturelle Förderungen und auch mehr Platz im Lehrplan, sowohl in der Ausbildung als auch im Studium, meint Çinur Ghaderi. „Als Hochschule haben wir den Anspruch, Wissen zu vermitteln, aber auch ein Bewusstsein für transkulturelle Herausforderungen zu schaffen. Dabei zieht die polarisierte, politische Atmosphäre auch an unseren Studierenden nicht spurlos vorbei – da ist es besser, sie wahrzunehmen, anzusprechen und sichere Räume ohne Angst zu schaffen.“

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    Wie weit sind wir wirklich in der Lage, Diversität nicht nur zu fordern, sondern zu leben und passende Inhalte in der Pflegeausbildung und im -studium zu verankern? Das Gespräch mit Çinur Ghaderi, Karin Tiesmeyer, Kerstin Walther und Mary Lam gibt einen eindrücklichen Einblick in unterschiedliche Perspektiven und in aktuelle Diskriminierungserfahrungen – und lädt dazu ein, eigene Denkmuster zu hinterfragen. Denn Pflege bedeutet Nähe. Und Nähe verlangt Haltung.

    Interesse geweckt?

    Vom 25.-27.09.2025 findet in Düsseldorf der DTPPP-Kongress (Dachverband der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum e. V.) statt. Titel: „Ohne Schuld und Scham? Auswirkungen politischer Sprache auf psychische Gesundheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt“. In diesem Rahmen bieten die EvH-Wissenschaftlerinnen einen Workshop zum Thema „Pflege im transkulturellen Kontext – Zwischen Diversitätsanspruch und Diskriminierungsrealität“ an.

    Weitere Information und Anmeldung:
    https://www.dtppp.de/kongresse


    Contact for scientific information:

    Prof. Dr. Çinur Ghaderi, Ghaderi@EvH-Bochum.de


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    Geinsam gegen Tabus und Ausgrenzung (v.l.n.r.): Kerstin Walther, Karin Tiesmeyer, Mary Lam und Çinur Ghaderi von der EvH Bochum reflektieren im Seminar sowie auf Fachtagungen transkulturelle Diskriminierungserfahrungen.
    Geinsam gegen Tabus und Ausgrenzung (v.l.n.r.): Kerstin Walther, Karin Tiesmeyer, Mary Lam und Çinu ...

    Copyright: (© EvH Bochum)

    „Haltung – Handlung – Schutz“ können dabei helfen mit diskriminierenden Situationen im Pflegealltag umzugehen. (© Christoph Illigens, Visuelle Kommunikation)
    „Haltung – Handlung – Schutz“ können dabei helfen mit diskriminierenden Situationen im Pflegeal ...

    Copyright: (© Christoph Illigens, Visuelle Kommunikation)


    Criteria of this press release:
    Journalists
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Philosophy / ethics, Psychology, Social studies
    transregional, national
    Scientific conferences, Transfer of Science or Research
    German


     

    Geinsam gegen Tabus und Ausgrenzung (v.l.n.r.): Kerstin Walther, Karin Tiesmeyer, Mary Lam und Çinur Ghaderi von der EvH Bochum reflektieren im Seminar sowie auf Fachtagungen transkulturelle Diskriminierungserfahrungen.


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    „Haltung – Handlung – Schutz“ können dabei helfen mit diskriminierenden Situationen im Pflegealltag umzugehen. (© Christoph Illigens, Visuelle Kommunikation)


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