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08/06/2025 17:25

Helden, Opfer – und kaum Kollaborateure

Kathrin Voigt Kommunikation und Presse
Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    Ob in Belgien, Polen oder der Ukraine: Wenn es um die Rolle der eigenen Bevölkerung während der nationalsozialistischen Besatzung geht, sehen sich viele Menschen in Europa heute als Opfer – oder als Helden. Zu diesem Ergebnis kommt eine länderübergreifende Studie. An der der Studie zugrunde liegenden Online-Befragung beteiligten sich 5.474 Personen aus acht europäischen Ländern: Belgien, Frankreich, Litauen, Niederlande, Österreich, Polen, Ukraine und Ungarn.

    Internationale Studie zeigt, wie Menschen in Europa die Rolle ihrer Bevölkerung in der NS-Zeit verklären

    Ob in Belgien, Polen oder der Ukraine: Wenn es um die Rolle der eigenen Bevölkerung während der nationalsozialistischen Besatzung geht, sehen sich viele Menschen in Europa heute als Opfer – oder als Helden. Zu diesem Ergebnis kommt eine länderübergreifende Studie unter Leitung von Dr. Fiona Kazarovytska von der Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Die Ergebnisse veröffentlichte sie gemeinsam mit Prof. Dr. Roland Imhoff von der JGU und Prof. Dr. Gilad Hirschberger von der Reichman University in Israel im Fachjournal Political Psychology.

    Im Rahmen der Studie führte das Team eine Online-Befragung mit 5.474 Personen aus acht europäischen Ländern durch: Belgien, Frankreich, Litauen, Niederlande, Österreich, Polen, Ukraine und Ungarn. Die Teilnehmenden wurden repräsentativ nach Alter und Geschlecht ausgewählt. Ziel war es herauszufinden, wie Menschen heute die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung unter der NS-Besatzung erinnern. Dazu sollten sie auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie sehr sie bestimmten Aussagen zustimmen – etwa "Die Menschen in meinem Land wurden verfolgt, weil sie Widerstand geleistet haben." oder "Die Bevölkerung hatte keine andere Wahl, als mit den Nazis zu kooperieren."

    Einheitliches Erinnerungsmuster über Ländergrenzen hinweg

    "Trotz historischer Unterschiede zeigt sich in allen Ländern ein bemerkenswert ähnliches Bild", erklärt Dr. Fiona Kazarovytska. "Die Menschen tendieren dazu, ihre eigene Bevölkerung als 'Opfer-Helden' wahrzunehmen – also als solche, die unter den Nazis gelitten und zugleich mutig Widerstand geleistet haben." Auch die Vorstellung, dass man aus Angst oder unter Zwang mit dem NS-Regime kollaborierte, ist weit verbreitet.

    Dabei ist es historisch belegt, dass in vielen Ländern Regierungen oder Teile der Bevölkerung aktiv mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten – sei es durch bürokratische Unterstützung bei Deportationen, durch eigene antisemitische Gesetzgebung oder durch direkte Beteiligung an Gewaltakten. Die bewusste, ideologisch motivierte Kollaboration sei jedoch in allen Ländern im Erinnern deutlich weniger präsent als Opferschaft und Heldentum.

    Psychologische Schutzmechanismen beeinflussen Erinnerung

    Die Studie ist die erste ihrer Art, die systematisch und empirisch untersucht, wie Bürgerinnen und Bürger in acht europäischen Ländern moralisch auf die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung während der NS-Zeit zurückblicken. Damit rückt diese Studie die subjektive Wahrnehmung der breiten Bevölkerung in den Mittelpunkt. Der Fokus auf moralische Selbstverortung und nationale Identifikation erlaubt dabei neue Einblicke in die psychologischen Mechanismen kollektiver Erinnerung – jenseits offizieller Geschichtspolitik.

    Ähnliche psychologische Muster wie die Tendenz zur moralischen Entlastung durch Betonung von Zwang oder Widerstand sind für die deutsche Bevölkerung durch frühere Studien gut belegt. Die neue Untersuchung zeigt nun, dass sich vergleichbare Formen kollektiver Selbstverklärung auch in anderen europäischen Gesellschaften finden, obwohl deren historische Rollen sehr unterschiedlich waren.

    Selbstverklärung als Schutz der nationalen Identität

    Dass viele Menschen die Rolle ihrer Vorfahren positiv darstellen, hat psychologische Gründe. "Das dient dem Schutz der eigenen nationalen Identität", erklärt Kazarovytska. Wer sich mit der eigenen Geschichte konfrontiert sieht, stehe oft vor einer psychologischen Herausforderung. "Schuld oder Mitverantwortung anzuerkennen ist etwas, das schwer mit einem positiven Selbstbild vereinbar ist." Stattdessen griffen viele auf narrative Strategien zurück, die moralische Ambivalenz ausblenden und die Vergangenheit in ein günstigeres Licht rücken.

    Die Ergebnisse der Studie werfen ein neues Licht auf nationale Erinnerungskulturen und ihre psychologischen Mechanismen. Sie zeigen, wie stark das Bedürfnis nach einer positiven kollektiven Identität die Wahrnehmung der Vergangenheit prägt – selbst dann, wenn sie von historischen Fakten abweicht.

    Bildmaterial:
    https://download.uni-mainz.de/presse/02_kazarovytska_fiona.jpg
    Dr. Fiona Kazarovytska, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie am Psychologischen Institut der JGU und Juniormitglied im Gutenberg Academy Fellows Program (GAFP) der Universität
    ©: Fiona Kazarovytska

    https://download.uni-mainz.de/presse/02_psychologie_erinnerungskultur_historisch...
    Die Grafik zeigt, wie Menschen in acht Ländern die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg erinnern. Die meisten sehen ihre Landsleute als Opfer oder gezwungene Mitläufer. Freiwillige Kollaboration wird deutlich seltener wahrgenommen.
    Abb./©: Fiona Kazarovytska

    Weiterführende Links:
    https://www.sozrepsy.uni-mainz.de/ – Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie am Psychologischen Institut der JGU

    Video:
    https://www.youtube.com/watch?v=4C5j18jpIuI – Video-Porträt von Dr. Fiona Kazarovytska, Juniormitglied des Gutenberg Academy Fellows Program (GAFP) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    Lesen Sie mehr:
    https://presse.uni-mainz.de/die-gutenberg-akademie-eine-universitaetsweite-gemei... – Pressemitteilung "Die Gutenberg Akademie: eine universitätsweite Gemeinschaft herausragender Doktorandinnen und Doktoranden sowie Künstlerinnen und Künstler" (27.04.2022)


    Contact for scientific information:

    Dr. Fiona Kazarovytska
    Abteilung für Sozial- und Rechtspsychologie
    Psychologisches Institut
    Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    55099 Mainz
    Tel.: 06131 39-21106
    E-Mail: fiona.kazarovytska@uni-mainz.de
    https://www.sozrepsy.uni-mainz.de/fiona-kazarovytska-m-sc/


    Original publication:

    F. Kazarovytska, R. Imhof, G. Hirschberger, Beyond victimhood and perpetration: Reconstruction of the ingroup's historical role in eight Eastern and Western European countries under Nazi occupation, Political Psychology 46: 4, 11. Juli 2025,
    DOI: 10.1111/pops.13037
    https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/pops.13037

    F. Kazarovytska, Identity protection and collective (non-)remembrance (Dissertation), 2024,
    DOI: 10.25358/openscience-11822
    http://doi.org/10.25358/openscience-11822


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    Die Grafik zeigt, wie Menschen in acht Ländern die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg erinnern. Die meisten sehen ihre Landsleute als Opfer oder gezwungene Mitläufer. Freiwillige Kollaboration wird deutlich seltener wahrgenommen.
    Die Grafik zeigt, wie Menschen in acht Ländern die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung im Zweiten Weltkr ...
    Source: Abb./©: Fiona Kazarovytska

    Dr. Fiona Kazarovytska, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie am Psychologischen Institut der JGU und Juniormitglied im Gutenberg Academy Fellows Program (GAFP) der Universität
    Dr. Fiona Kazarovytska, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie ...
    Source: © Fiona Kazarovytska


    Criteria of this press release:
    Journalists, all interested persons
    Cultural sciences, History / archaeology, Psychology, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Die Grafik zeigt, wie Menschen in acht Ländern die Rolle ihrer eigenen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg erinnern. Die meisten sehen ihre Landsleute als Opfer oder gezwungene Mitläufer. Freiwillige Kollaboration wird deutlich seltener wahrgenommen.


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