Das menschliche Gehirn altert weniger als gedacht und schichtweise – jedenfalls in dem für den Tastsinn zuständigen Bereich der Hirnrinde. Zu diesem Schluss kommen Forschende des DZNE, der Universität Magdeburg und des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen anhand von Hirnscans von jungen und älteren Erwachsenen sowie Untersuchungen an Mäusen. Ihre Befunde, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Nature Neuroscience“, liefern auch neue Erkenntnisse darüber, wie sich die Fähigkeit zur Verarbeitung von Sinneseindrücken mit dem Altern verändert.
Die Hirnrinde eines Menschen ist nur wenige Millimeter dick und liegt in zahlreichen Falten. Dieses Gewebe, auch „Cortex“ genannt, wird mit den Jahren für gewöhnlich dünner. „Das ist eine typische Alterserscheinung, die unter anderem dem Verlust von Nervenzellen zugeschrieben wird. Manche Fähigkeiten lassen infolgedessen nach. Im Allgemeinen geht man jedenfalls davon aus, dass weniger Hirnvolumen verminderte Funktion bedeutet“, erläutert Prof. Esther Kühn, Neurowissenschaftlerin am DZNE und am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. „Man weiß aber wenig darüber, wie genau der Cortex eigentlich altert. Das ist bemerkenswert, da viele Tätigkeiten unseres täglichen Lebens von einem funktionierenden Cortex abhängen. Deshalb haben wir uns die Situation mit hochauflösenden Hirnscans angeschaut.“
Prozessor für taktilen Input
Esther Kühn konzentrierte sich dabei – im Team mit Kolleginnen und Kollegen aus Tübingen und Magdeburg – auf einen Ausschnitt der Hirnrinde, in dem Signale des Tastsinns verarbeitet werden. Dieser “primäre somatosensorische Cortex“ liegt links und rechts der Kopfoberseite und erstreckt sich entlang eines etwa fingerbreiten Streifens in Richtung des jeweiligen Ohrs. „Dieses Hirnareal ist wichtig für die Wahrnehmung des eigenen Körpers und für die Wechselwirkung mit der Umgebung“, erläutert die Neurowissenschaftlerin. „Wenn ich etwa einen Schlüssel in die Hand nehme, eine Türklinke greife oder auch wenn ich laufe, dann brauche ich ständig haptisches Feedback, um meine Bewegungen zu kontrollieren. Die zugehörigen Reize laufen in diesem Areal zusammen und werden dort auch verarbeitet.“
Unerwarteter Befund
Mittels Magnetresonanztomografie (MRT) konnten die Forschenden diesen Bereich der Hirnrinde mit bislang unerreichter Genauigkeit vermessen. Sie nutzen dafür einen besonders leistungsfähigen Scanner mit einer Magnetfeldstärke von sieben Tesla, so dass sie filigrane Hirnstrukturen etwa von der Größe eines Sandkorns abbilden konnten. Insgesamt rund 60 Frauen und Männer im Alter zwischen 21 und 80 Jahren wurden untersucht. „Bisher hatte man außer Acht gelassen, dass der primäre somatosensorische Cortex aus einem Stapel mehrerer, quasi hauchdünner Gewebeschichten besteht, von denen jede ihre eigene Architektur und Funktion hat. Wir haben nun festgestellt, dass diese Schichten unterschiedlich altern. Obwohl die Hirnrinde insgesamt dünner wird, bleiben manche ihrer Schichten stabil oder sind im Alter überraschenderweise sogar dicker. Mutmaßlich, weil sie besonders beansprucht werden und ihre Funktionalität dadurch erhalten bleibt. Wir sehen daher Hinweise für Neuroplastizität, also für Anpassungsfähigkeit, auch bei älteren Menschen.“
Etagierte Architektur
Der geschichtete Aufbau des primären somatosensorischen Cortex findet sich in ähnlicher Weise auch in anderen Arealen des menschlichen Gehirns wieder – und selbst bei anderen Lebewesen. „Evolutionär hat sich offenbar bewährt, sensorische Informationen in dieser Weise zu verarbeiten“, so Kühn. In der aktuellen Studie erwiesen sich neben der mittleren Schicht des Cortex auch die darüber liegenden Bereiche als auffällig resistent gegen den Alterungsprozess. Die einzelnen Schichten wurden anhand ihres Gehalts an Myelin unterschieden. Diese Substanz ist für die Übertragung von Nervensignalen von Bedeutung. „Die mittlere Schicht ist quasi die Eingangstür für haptische Reize, in den darüber liegenden Schichten finden weitere Verarbeitungsprozesse statt“, sagt Kühn. „Bei sensorischen Impulsen etwa von der Hand kümmern sich die oberen Schichten insbesondere um das Zusammenspiel benachbarter Finger. Das ist wichtig beim Greifen von Gegenständen. Mit unseren Probanden haben wir daher auch Tests zur taktilen Empfindlichkeit und motorischen Fähigkeit der Hand durchgeführt. Überdies haben wir sogenannte funktionelle MRT gemacht, um die Funktion der mittleren Schicht des Cortex, dort wo die Signale eintreffen, zu erfassen.“
Modulierte Reize
Nur die tiefer liegenden Schichten der Hirnrinde zeigten altersbedingten Abbau: Bei älteren Studienteilnehmenden waren sie dünner als bei jüngeren Menschen. In den unteren Schichten des Cortex findet sogenannte Modulation statt: Die Signale des Tastsinns werden hier je nach Kontext verstärkt oder abgeschwächt. „Das hat mit Konzentration und Aufmerksamkeit zu tun“, erläutert Kühn. „Trage ich beispielsweise einen Ring am Finger, dann spüre ich diesen irgendwann nicht mehr, auch wenn die taktilen Reize bestehen bleiben. Das passiert erst dann wieder, wenn ich den Ring wieder bewusst wahrnehme.“
Benutztes wird bewahrt
„Die mittlere Schicht des Cortex und auch die oberen Schichten sind äußeren Reizen am unmittelbarsten ausgesetzt. Sie sind dauerhaft aktiv, denn man ist ja ständig in Kontakt mit der Umgebung“, so Kühn weiter. „Die Nervenschalkreise in den unteren Schichten werden weniger beansprucht, gerade im Alter. Deshalb sehe ich unsere Befunde als Indiz dafür, dass das Gehirn bewahrt, was intensiv genutzt wird. Das ist ein Merkmal von Neuroplastizität. Dazu passen auch unsere Beobachtungen von einem Probanden, der 52 Jahre alt war. Sein Leben lang konnte er nur einen Arm nutzen, denn von Geburt an fehlte ihm das andere Glied. Die zugehörige mittlere Schicht seiner Hirnrinde, also jene, die sensorische Reize empfängt, war vergleichsweise dünn.“ Überdies könnten die Unterschiede in der Alterung der Hirnschichten möglicherweise erklären, warum manche Fertigkeiten mit dem Alter nachlassen, andere weniger. „Sensomotorische Fähigkeiten, die immer wieder geübt werden, etwa das Schreiben auf einer Tastatur, können auch im Alter lange bestehen bleiben“, so Kühn. „Kommen jedoch störende Einflüsse hinzu, etwa eine laute Umgebung, dann tun sich ältere Personen mit solchen Tätigkeiten meist besonders schwer. Das könnte daran liegen, dass die Funktionalität der tiefen Hirnschichten nachgelassen hat, die Modulation sensorischer Reize also beeinträchtigt ist.“
Hinweise auf Kompensation
Die Forschenden fanden allerdings Hinweise dafür, dass Mechanismen in den tiefen Hirnschichten sich dem altersbedingten Funktionsverlust zu einem gewissen Grad widersetzen. „Obwohl die tiefen Schichten der Hirnrinde mit zunehmendem Alter dünner wurden, nahm ihr Myelin-Gehalt überraschenderweise zu. Bei Vergleichsstudien an Mäusen haben wir diese Effekte ebenfalls beobachtet. Wir haben dann herausgefunden, dass der Anstieg des Myelins darauf zurückgeht, dass bestimmte Nervenzellen vermehrt vorkommen“, so Kühn. „Von diesen ist bekannt, dass sie sich positiv auf die Modulation von Nervenimpulsen auswirken. Sie schärfen sozusagen das Signal. Offenbar wirken Kompensationsmechanismen der zellulären Degeneration teilweise entgegen. In Hinblick auf Prävention wäre es interessant zu erforschen, ob sich diese Mechanismen gezielt fördern und erhalten lassen. Denn unsere Daten von den Mäusen deuten darauf hin, dass diese Kompensation in sehr hohem Alter wegbricht.“
Optimistischer Blick auf das Altern
„Insgesamt passen unsere Befunde zur allgemeinen Sichtweise, dass wir unserem Gehirn durch geeignete Stimulation etwas Gutes tun. Ich finde es eine optimistische Vorstellung, dass wir unseren Alterungsprozess ein Stück weit selbst in der Hand haben“, meint Kühn. „Aber jede und jeder muss natürlich für sich einen Weg finden, dieses Potenzial auch zu nutzen.“
--
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist eines der weltweit führenden Forschungszentren für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Diese Erkrankungen bedeuten enorme Belastungen für Betroffene und ihre Angehörigen, aber auch für die Gesellschaft und Gesundheitsökonomie. Das DZNE trägt maßgeblich zur Entwicklung neuer Strategien der Prävention, Diagnose, Versorgung, Behandlung und Pflege bei – und zu deren Überführung in die Praxis. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. https://www.dzne.de
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) wurde 2001 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Land Baden-Württemberg, der Eberhard-Karls-Universität und ihrer medizinischen Fakultät sowie dem Universitätsklinikum Tübingen gegründet. Das HIH beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht die Frage, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Dabei schlägt das HIH die Brücke von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung. Ziel ist, neue und wirksamere Strategien der Diagnose, Therapie und Prävention zu ermöglichen. Mehr Informationen: https://www.hih-tuebingen.de
Layer-specific changes in sensory cortex across the lifespan in mice and humans, Nature Neuroscience (2025), Peng Liu, Juliane Dohler et al., DOI: 10.1038/s41593-025-02013-1, URL: https://www.nature.com/articles/s41593-025-02013-1
https://www.dzne.de/en/news/press-releases/press/the-cerebral-cortex-ages-less-t... Englische Fassung dieser Meldung
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Biology, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Research results
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).