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09/08/2025 08:56

Zweigliedriges Schulsystem in Berlin: Das Abitur wird öfter, aber weiterhin sozial ungleich erworben

Philip Stirm Referat Kommunikation
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation

    Eine aktuelle Studie des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation sowie der Technischen Universität Dortmund zeigt: Die Umstellung auf ein zweigliedriges Schulsystem in Berlin hat insgesamt zu einem Anstieg der Abiturquote geführt. Allerdings blieben die sozialen Unterschiede beim Erwerb des Abiturs bestehen.

    Basis der Auswertung sind Daten der BERLIN-Studie, die die 2010/2011 in Berlin durchgeführte Schulstrukturreform langfristig wissenschaftlich begleitet hat. Kern der Reform war, die Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Integrierten Sekundarschulen (ISS) zusammenzufassen. An den ISS kann in einer integrierten Oberstufe oder über Kooperationen mit anderen Schulen das Abitur erworben werden – genau wie an der weiterhin bestehenden zweiten Schulform, dem Gymnasium. Ziel der Reform war, die Abiturquote zu erhöhen und die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem zu reduzieren. Die neuen Befunde zeigen nun: „Der Anteil der Abiturient*innen ist bei den untersuchten Schüler*innen insgesamt merklich angestiegen – von 34,8 auf 42,9 Prozent“, so Dr. Anna Bachsleitner, Erstautorin der jetzt in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie veröffentlichen Analyse. Vor allem an den ISS sei der Aufschwung der Quote von 11,4 auf 19,2 Prozent auffällig. Zugleich hält sie fest: „Wenn man die Zahlen nach sozialer Herkunft aufschlüsselt, haben sich die Ungleichheiten im Abiturerwerb allerdings nicht signifikant verändert.“

    Untersuchungsgruppe und Ergebnisse im Detail

    Die Wissenschaftler*innen der BERLIN-Studie haben zwei Kohorten von Schüler*innen von der neunten Klasse bis zum potenziellen Erwerb des Abiturs mit mehreren Befragungen begleitet – eine Kohorte vor, die andere nach Einführung der Reform. Die Ergebnisse beider Kohorten wurden miteinander verglichen. Dem gestiegenen Anteil von Abiturient*innen an den neu eingeführten ISS galt das besondere Interesse der aktuellen Analyse. Denn die soziale Zusammensetzung an den beiden Schulformen unterscheidet sich erheblich: Rund zwei Drittel der Jugendlichen ohne Elternteil mit akademischem Abschluss besuchte nach der Reform eine ISS, dagegen nur etwa ein Drittel ein Gymnasium. Daher ging das wissenschaftliche Team zunächst von der Hypothese aus, dass diese soziale Herkunftsgruppe durch die erhöhte Abiturquote ihren Anteil an Abiturient*innen besonders steigern kann und sich dadurch die soziale Ungleichheit reduziert. Jedoch legten an den ISS vor allem die Jugendlichen mit zwei akademischen Elternteilen bei der Abiturquote zu – von 27,4 Prozent auf 45 Prozent. Die Schüler*innen aus den nicht-akademischen Familien verbesserten sich zwar ebenfalls (von 9,4 auf 16,1 Prozent), ebenso wie die mit einem akademischen Elternteil (von 19,9 auf 26,8 Prozent), aber eben in geringerem Maße als die Jugendlichen mit zwei akademischen Elternteilen.

    Legt man nun aber die größere Anzahl der Schüler*innen aus nicht-akademischen Familien an den ISS zugrunde, haben sich die sozialen Unterschiede beim Abiturerwerb über beide Schulformen betrachtet nicht verändert. Das lässt sich auch an den vergleichsweise stabilen Chancenverhältnissen erkennen: „Vor der Reform hatten Schüler*innen mit zwei akademischen Elternteilen eine 4,54-mal höhere Chance, das Abitur zu erreichen, als solche ohne akademischen Elternteil. Dieser Wert war nach der Reform mit 4,56 so gut wie unverändert“, erläutert Dr. Bachsleitner.

    Hintergründe und Ausblick

    Zentral für das fehlende Absinken der sozialen Ungleichheit ist also insbesondere die stark gestiegene Abiturquote der Schüler*innen mit zwei akademischen Elternteilen an den ISS. Als eine mögliche Begründung für diesen Anstieg nennt das wissenschaftliche Team das sogenannte Statuserhalt-Motiv. „Dahinter steht die Annahme, dass Schüler*innen aus privilegierten Familien stärker die neuen Möglichkeiten an den ISS, das Abitur zu erwerben, nutzen, weil sie den gleichen sozialen Status wie ihre Eltern erreichen wollen“, so Bachsleitner. Ein Ansatz für einen Abbau der sozialen Ungleichheit sei es daher, Jugendliche ohne akademische Eltern gezielter dabei zu unterstützen, die Vorteile der nun durchlässigeren Schulstruktur zu nutzen, ergänzt die Soziologin. Insgesamt sei aber festzuhalten, dass die Abiturquote in allen sozialen Herkunftsgruppen gestiegen und damit ein Teilziel der Reform erreicht worden sei.

    Zugleich weisen die Forschenden auf Einschränkungen bei der Aussagekraft der Analyse hin. Beispielsweise seien die Untersuchungen mit der Reform-Kohorte bereits zwei Jahre nach dem Einführen der Reform erfolgt. Eventuell brauche es länger, bis die Effekte der angepassten Schulform ihre Wirkung zeigen – etwa über eine stärkere institutionelle Verankerung der neuen Regeln und über mehr Erfahrung der Eltern und Jugendlichen mit der reformierten Schulstruktur. Die Wissenschaftler*innen betonen darüber hinaus, dass die Ergebnisse aufgrund der besonderen Bedingungen in Berlin nur begrenzt auf andere Länder übertragbar seien und es weiterer Forschung zu den Auswirkungen der Schulstrukturreform bedürfe.

    Die Fachveröffentlichung zu der Auswertung ist frei verfügbar:

    Bachsleitner, A., Lörz, M., Neumann, M. & Becker, M. (2025). Soziale Ungleichheiten im Abiturerwerb: Wie durchlässig ist das zweigliedrige Schulsystem und für wen?. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 77(2), 183–213. https://doi.org/10.1007/s11577-025-01001-4

    Über die BERLIN-Studie:

    Die BERLIN-Studie ist die langfristige wissenschaftliche Begleituntersuchung der Berliner Schulstrukturreform von 2010/2011. Die Studie ist ein Kooperationsprojekt des DIPF mit dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, dem IPN – Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik sowie der Technischen Universität (TU) Dortmund.

    Über das DIPF:

    Das DIPF ist das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation mit Standorten in Frankfurt am Main und in Berlin. Es will dazu beitragen, Herausforderungen in der Bildung und für das Erforschen von Bildung zu bewältigen. Dafür unterstützt das Institut Schulen, Kindertagesstätten, Hochschulen, Wissenschaft, Verwaltung und Politik mit Forschung, digitaler Infrastruktur und Wissenstransfer. Übergreifendes Ziel seiner Aktivitäten ist eine qualitätsvolle, verantwortliche, international anschlussfähige und Gerechtigkeit fördernde Bildung, die zudem bestmöglich erforscht werden kann. http://www.dipf.de

    Pressekontakt:

    Philip Stirm, DIPF, +49 (0)69 24708-123, p.stirm@dipf.de


    Contact for scientific information:

    Dr. Anna Bachsleitner, DIPF, +49 (0)69 24708-471, a.bachsleitner@dipf.de


    Original publication:

    Bachsleitner, A., Lörz, M., Neumann, M. & Becker, M. (2025). Soziale Ungleichheiten im Abiturerwerb: Wie durchlässig ist das zweigliedrige Schulsystem und für wen?. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 77(2), 183–213. https://doi.org/10.1007/s11577-025-01001-4


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    Criteria of this press release:
    Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Teachers and pupils, all interested persons
    Social studies, Teaching / education
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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