SFB 1182-Forschungsteam schlägt eine Weiterentwicklung bestehender Evolutionstheorien vor, um die miteinander verknüpfte Evolution von Wirtsorganismen und Mikroorganismen besser zu verstehen
Das Mikrobiom umfasst eine Vielzahl von Bakterien, Viren und Pilzen, die in und auf einem vielzelligen Organismus leben. Die Wechselwirkungen zwischen den Körperzellen und dem Mikrobiom bilden eine strukturelle und oft auch funktionelle Einheit, den sogenannten Metaorganismus. Dessen Wechselwirkungen beeinflussen maßgeblich die Biologie sowohl des Wirts als auch der assoziierten Mikroorganismen. Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat dieses Zusammenspiel in den letzten zehn Jahren eingehend untersucht. Ein Aspekt, der bisher wenig Beachtung fand, ist die Frage, wie diese Wechselwirkungen die Evolution von Wirten und ihren assoziierten Mikroorganismen tatsächlich beeinflussen.
Um diese Wissenslücke zu schließen, haben sich Forschende des SFB 1182, darunter Dr. Bob Week und Professor Hinrich Schulenburg, der auch Sprecher des Sonderforschungsbereichs ist, mit internationalen Kolleginnen und Kollegen zusammengetan, darunter Professor Brendan Bohannan von der University of Oregon, der zurzeit Mercator-Fellow des SFB 1182 ist. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme bestehender Theorien schlägt diese internationale Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehrere neue theoretische Ansätze vor: Diese sollen eine vertiefte Forschung darüber anregen, wie die Interaktionen zwischen Wirt und Mikrobiom den Prozess und die Dynamik der Evolution gestalten. Diese neuartigen Konzepte sind heute in der renommierten Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution erschienen.
Mikrobiome bilden einen bedeutenden Faktor in der Vererbung
Die Untersuchung von Wirt-Mikroben-Interaktionen und ihre Beteiligung an zentralen Lebensprozessen steht im Mittelpunkt der aktuellen Forschung in den Biowissenschaften. Forschende haben in einer Vielzahl von Studien gezeigt, dass wirtsassoziierte Mikrobiome viele Schlüsselfunktionen ihrer Wirte und dadurch die evolutionäre Fitness des Gesamtorganismus beeinflussen können. In der Tat deuten verschiedene Studien darauf hin, dass das Mikrobiom die Fähigkeit des Wirts, sich an neue Umweltbedingungen anzupassen, entscheidend unterstützt und damit die Evolution des Wirts beeinflusst. Dieser weitreichende Einfluss ist überraschend, da wirtsassoziierte Mikroben nicht unbedingt von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden - eine Form der Vererbung von einer Generation zur nächsten ist jedoch Voraussetzung dafür, dass Evolution stattfinden kann. Dies wirft die Frage auf, wie die durch das Mikrobiom vermittelten Merkmale tatsächlich von Generation zu Generation weitergegeben werden können.
Theoretische Modelle haben ein großes Potenzial, solche komplexen Beziehungen zu entschlüsseln, wichtige Faktoren zu identifizieren und dadurch Hypothesen für neue Forschungsarbeiten aufzustellen. Trotz des besonderen Interesses an der Erforschung von Metaorganismen gibt es bislang erstaunlich wenige theoretische Modelle zur Evolution des Mikrobioms im Wirt. „Derzeit betrachten die meisten Biologinnen und Biologen den evolutionären Einfluss des Mikrobioms als eine Art erweitertes Vererbungsphänomen, für das es in der Evolutionsbiologie bereits verschiedene theoretische Konzepte gibt“, betont Bohannan, der sich derzeit als SFB 1182-Mercator Fellow an der Universität Kiel aufhält. „Allerdings wurden die meisten Evolutionstheorien nicht unter Berücksichtigung von Mikrobiomen entwickelt, und ich glaube nicht, dass die aktuellen Theorien ausreichen, um ein umfassendes Verständnis der Auswirkungen von Mikrobiomen auf die Evolution von Metaorganismen zu vermitteln. Das Ziel unserer neuen Arbeit ist es, erste Schritte zur Entwicklung einer Evolutionstheorie zu unternehmen, deren Kern die Wirts-Mikrobiom-Biologie ist“, so Bohannan weiter.
Erweiterung bestehender Evolutionskonzepte
Das internationale Autorenteam, dem auch Professorin Shelbi Russell von der University of California, Santa Cruz, und Professorin Marjolein Bruijning von der Universität Amsterdam angehören, hat daher die am häufigsten diskutierten theoretischen Konzepte auf ihre Anwendbarkeit zur Beschreibung der mikrobiomvermittelten Evolution hin untersucht. Ein Beispiel dafür ist ein Phänomen, das als Nischenkonstruktion bezeichnet wird. „Dieses Modell der Nischenkonstruktion ist vergleichbar mit Landwirtschaft. Hier werden Pflanzen angebaut und Nutztiere gehalten, um einen ausreichenden Vorrat an Lebensmitteln zu gewährleisten“, erklärt Erstautor Dr. Bob Week, Wissenschaftler in Schulenburgs Arbeitsgruppe, der durch ein Fellowship des Kiel Training for Excellence (KiTE)-Programms von der CAU unterstützt wird. „Im Zusammenhang mit dem Metaorganismus wird von Nischenkonstruktion gesprochen, wenn ein Wirtsorganismus die Präsenz von Mikroorganismen in seiner Umgebung beeinflusst und sie gemäß der Analogie zur Landwirtschaft dort im übertragenen Sinne kultiviert. Dadurch ist die Verfügbarkeit nützlicher Mikroben nicht nur während der eigenen Lebenszeit, sondern möglicherweise auch für die nächsten Generationen sichergestellt. Eine solche Nischenkonstruktion des Umweltmikrobioms kann somit die erfolgreiche Übertragung von mikrobiomabhängigen Funktionen von einer Wirtsgeneration auf die nächste vermitteln, was eine wichtige Voraussetzung für den Einfluss des Mikrobioms auf die Evolution des Wirts ist", betont Week.
Neue theoretische Grundlagen für die empirische Forschung schaffen
Neben dem beschriebenen Beispiel werden in der neuen Publikation insgesamt vier theoretische Modelle vorgestellt, die besonders vielversprechend sind, um das Verständnis der Wirts-Mikrobiom-Evolution zu verbessern. „Um die biologische Vielfalt dieser Systeme besser erfassen und experimentell überprüfen zu können, sollten die jetzt vorgestellten Modelle in enger Zusammenarbeit mit empirisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen sorgfältig erweitert werden“, betont Schulenburg, der auch im Forschungsschwerpunkt Kiel Life Science (KLS) aktiv ist. „Genau dieser kooperative Aspekt ist ein Hauptaugenmerk unseres Sonderforschungsbereichs. Mit unserer neuen Publikation liefern wir nun entscheidende theoretische Bausteine, die in Zukunft neue Forschung zu den evolutionären Konsequenzen von Wirt-Mikrobiom-Assoziationen anregen sollen."
Über den SFB 1182:
Der Sonderforschungsbereich „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ ist ein interdisziplinäres Netzwerk unter Beteiligung von rund 80 Forschenden, das die Interaktionen spezifischer Mikrobengemeinschaften mit vielzelligen Wirtslebewesen untersucht. Es wird von der Deutschen Forschungsgmeinschaft (DFG) unterstützt und beschäftigt sich mit der Frage, wie Pflanzen und Tiere einschließlich des Menschen gemeinsam mit hoch spezifischen Gemeinschaften von Mikroben funktionale Einheiten (Metaorganismen) bilden. Ziel des SFB 1182 ist es, zu verstehen, warum und wie mikrobielle Gemeinschaften diese langfristigen Verbindungen mit ihren Wirtsorganismen eingehen und welche funktionellen Konsequenzen diese Wechselwirkungen haben. Im SFB 1182 sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fünf Fakultäten der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie Plön, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik und der Muthesius Kunsthochschule zusammengeschlossen.
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Bildunterschrift: Dr. Bob Week und eine internationale Gruppe von Forschenden schlagen die Weiterentwicklung bestehender Evolutionstheorien vor, um die miteinander verknüpfte Evolution von Wirtsorganismen und Mikroorganismen besser zu verstehen.
© Christian Urban, Uni Kiel
Weitere Informationen:
Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik,
Zoologisches Institut, CAU:
https://www.uni-kiel.de/zoologie/evoecogen
Sonderforschungsbereich (SFB) 1182
„Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“, CAU:
https://www.metaorganism-research.com
Environmental Studies and Biology (Bohannan Lab),
Institute of Ecology and Evolution,
University of Oregon, Eugene:
https://pages.uoregon.edu/bohannanlab
Kiel Training for Excellence (KiTE)-Programm,
Postgraduiertenzentrum (PZ), CAU:
https://www.uni-kiel.de/de/forschung/wissenschaftlicher-nachwuchs/kite
Forschungsschwerpunkt Kiel Life Science (KLS), CAU:
https://www.kls.uni-kiel.de
Prof. Hinrich Schulenburg,
Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik (Leitung),
Zoologisches Institut, CAU:
Tel.: 0431-880-4140
E-Mail: hschulenburg@zoologie.uni-kiel.de
Dr. Bob Week,
Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik,
Zoologisches Institut, CAU:
E-Mail: bweek@zoologie.uni-kiel.de
Bob Week, Shelbi L. Russell, Hinrich Schulenburg, Brendan J. M. Bohannan and Marjolein Bruijning (2025): Applying Evolutionary Theory to Understand Host-Microbiome Evolution. Nature Ecology & Evolution
First published: 8 September 2025 https://doi.org/10.1038/s41559-025-02846-w
https://www.uni-kiel.de/zoologie/evoecogen
https://www.metaorganism-research.com
https://pages.uoregon.edu/bohannanlab
https://www.uni-kiel.de/de/forschung/wissenschaftlicher-nachwuchs/kite
https://www.kls.uni-kiel.de
Dr. Bob Week und eine internationale Gruppe von Forschenden schlagen die Weiterentwicklung bestehend ...
Copyright: © Christian Urban, Uni Kiel
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Biology
transregional, national
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