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10/15/2025 11:45

Unabhängige Innovationen bei der Herstellung von Steinwerkzeugen in Europa und dem Nahen Osten

Christfried Dornis Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Forschende der Universitäten Tübingen und Arizona stellen die Annahme in Frage, dass eine rund 42.000 Jahre alte Schlüsselkultur durch Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa kam

    Bei der Herstellung von Steinwerkzeugen gingen moderne Menschen vor rund 42.000 Jahren in Europa und im Nahen Osten unterschiedlich vor. Das ergab eine vergleichende quantitative Analyse von Steinwerkzeugen aus Fundstätten in Italien und im Libanon. Sie wurde durchgeführt von Dr. Armando Falcucci von der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie im Fachbereich Geowissenschaften der Universität Tübingen und Professor Steven Kuhn von der School of Anthropology der University of Arizona in Tucson. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Technologie zur Bearbeitung von Steinen in Europa durch eigene Innovationen entwickelt wurde und nicht durch einen Wissensimport von den aus dem Nahen Osten eingewanderten Menschen zu erklären ist. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Journal of Human Evolution veröffentlicht.

    Für die Auswanderung unserer Vorfahren, des Homo sapiens, aus Afrika spielte der Nahe Osten als biogeografischer Korridor eine entscheidende Rolle. Jahrzehntelang nahm man in der Forschung an, dass viele technologische Innovationen durch die Einwanderung früher moderner Menschen aus dem Nahen Osten in Europa eingeführt wurden. Die rund 42.000 Jahre alte Kultur des Protoaurignaciens in Südeuropa wird daher allgemein als westliche Erweiterung der nahöstlichen Ahmarian-Kultur früher Homo-sapiens-Gruppen betrachtet.

    Erste quantitative Analyse

    Obwohl vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kulturelle Ähnlichkeiten zwischen den Steinwerkzeugen der Ahmarian- und der Protoaurignacien-Kultur auffielen, wurde bisher kein systematischer Vergleich der archäologischen Belege vorgenommen. Diese Lücke schließen Armando Falcucci und Steven Kuhn mit ihrer aktuellen Studie. Für die Ahmarian-Kultur untersuchten die Forschenden Tausende von Steinwerkzeugen aus der am dichtesten an Europa liegenden archäologischen Fundstätte Ksar Akil nahe Beirut im Libanon. Die bearbeiteten Steine des Protoaurignaciens für den Vergleich stammten aus drei wichtigen Fundstätten im heutigen Italien: der Grotta di Fumane nahe Verona im Nordosten, des Riparo Bombrini nahe Ventimiglia im Nordwesten und der Grotta di Castelcivita nahe Salerno im Süden. „Oberflächlich betrachtet sahen die Steinwerkzeuge aus diesen verschiedenen Gebieten ähnlich aus. Aber wir wollten genauer wissen, wie sie hergestellt wurden“, sagt Kuhn. „Beim Vergleich der Fundsammlungen konzentrierten wir uns vor allem auf die Steineinsätze zusammengesetzter Werkzeuge. Wir rekonstruierten ganz genau, wie die Feuersteinknollen geformt wurden, um gerade Klingen mit scharfen Kanten abzuschlagen“, erklärt Falcucci.

    Die Analyse habe auffällige Unterschiede ergeben in der Art, wie die Werkzeugmacher des Ahmarian und des Protoaurignaciens vorgingen. In beiden Regionen seien die Steinwerkzeuge immer kleiner geworden, was die Entwicklung komplexer zusammengesetzter Arbeitsgeräte widerspiegele. Doch trotz dieses ähnlichen Trends stellten die Werkzeugmacher der verschiedenen Gebiete kleine Klingen auf unterschiedliche Weise her. „Insgesamt betrachtet passen die Techniken der Ahmarian- und Post-Ahmarian-Kultur im Nahen Osten nicht mit denjenigen des Protoaurignaciens in Italien zusammen. Die Unterschiede bei der Herstellung von Abschlägen legen nahe, dass die europäischen Jäger und Sammler ihre Projektiltechnologie unabhängig voneinander entwickelten“, sagt Falcucci.

    Rekonstruktion der eigenen Geschichte

    „Die allgemeine Annahme, dass die steinzeitlichen technologischen Innovationen in Europa durch Einwanderungswellen aus dem Nahen Osten eingeführt werden, muss neu bewertet werden“, sagt Kuhn. „Zunehmend mehr biomolekulare und fossile Belege deuten darauf hin, dass der Homo sapiens spätestens vor 60.000 Jahren begann, sich in Eurasien auszubreiten, während dort zur gleichen Zeit lokale Populationen der Neandertaler und Denisova-Menschen lebten und es auch zur Durchmischung der Menschen kam“, ergänzt Falcucci. „Unsere Studie trägt zu einer wachsenden Sammlung wissenschaftlicher Belege bei, welche die Ausbreitung der modernen Menschen in Eurasien als einen komplexen, nicht geradlinig verlaufenden Prozess erscheinen lässt. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, den vielfach unterschätzten kulturellen Austausch mit unseren ausgestorbenen Verwandten, den Neandertalern und Denisova-Menschen, in die Rekonstruktion unserer eigenen Geschichte einzubeziehen. Die archäologischen Belege tragen dazu in unschätzbarer Weise bei“, sagt er.

    „Stein um Stein fügen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Bild von der Geschichte unserer Vorfahren und ihrer kulturellen Entwicklung zusammen, fügen Details hinzu oder berichten von überraschenden Wendungen. Es freut mich sehr, dass auch die Universität Tübingen immer wieder mit neuen Studienergebnissen zu diesem Prozess beitragen kann“, sagt Professorin Dr. Dr. h.c. (Dōshisha) Karla Pollmann, Rektorin der Universität Tübingen.

    Information:
    Die Untersuchung der großen Sammlung von Steinwerkzeugen aus Ksar Akil (Libanon), die zurzeit an der Harvard University aufbewahrt wird, wurde ermöglicht durch ein Forschungsstipendium der Reinhard Frank-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.


    Contact for scientific information:

    Dr. Armando Falcucci
    Universität Tübingen
    Fachbereich Geowissenschaften
    Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie
    Telefon +49 7071 29-78914
    armando.falcucci[at]uni-tuebingen.de

    Prof. Steven L. Kuhn
    University of Arizona
    School of Anthropology
    Tucson, AZ 85721-0030
    skuhn[at]arizona.edu


    Original publication:

    Armando Falcucci, Steven L. Kuhn: Ex Oriente Lux? A quantitative comparison between northern Ahmarian and Protoaurignacian. Journal of Human Evolution, 208. https://doi.org/10.1016/j.jhevol.2025.103744


    Images

    Beispiele für Steinartefakte aus dem Ahmarien von Ksar Akil (a & b) und dem Protoaurignacien von Grotta di Fumane (c) sowie Grotta di Castelcivita (d).
    Beispiele für Steinartefakte aus dem Ahmarien von Ksar Akil (a & b) und dem Protoaurignacien von Gro ...
    Source: Armando Falcucci
    Copyright: Universität Tübingen/Armando Falcucci

    Die Karte des Mittelmeers mit den geografischen Standorten der untersuchten Fundstellen und dem rekonstruierten Meeresspiegel vor etwa 42.000 Jahren.
    Die Karte des Mittelmeers mit den geografischen Standorten der untersuchten Fundstellen und dem reko ...
    Source: Armando Falcucci
    Copyright: Universität Tübingen/Armando Falcucci


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    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars
    Cultural sciences, Geosciences, History / archaeology
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Beispiele für Steinartefakte aus dem Ahmarien von Ksar Akil (a & b) und dem Protoaurignacien von Grotta di Fumane (c) sowie Grotta di Castelcivita (d).


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    Die Karte des Mittelmeers mit den geografischen Standorten der untersuchten Fundstellen und dem rekonstruierten Meeresspiegel vor etwa 42.000 Jahren.


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