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10/31/2025 16:51

Cochrane Review: „Abnehmspritzen“ helfen schwer Übergewichtigen beim Gewichtsverlust, aber unabhängige Studien fehlen

Mirjam Mischke-Stöckel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Cochrane Deutschland

    Drei neue Cochrane Reviews zeigen: Die als „Abnehmspritzen“ bekannten Wirkstoffe Tirzepatid, Semaglutid und Liraglutid führen bei Menschen mit schwerem Übergewicht zu einer medizinisch bedeutsamen Gewichtsabnahme, solange die Therapie beibehalten wird. Allerdings wurden fast alle der randomisiert kontrollierten Studien, die in den drei Cochrane Reviews ausgewertet wurden, von den Herstellern der Präparate finanziert und durchgeführt. Diese potentiellen Interessenkonflikte schränken die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse ein. Die Cochrane-Autor*innen fordern daher mehr unabhängige Forschung.

    „Diese Medikamente können insbesondere im ersten Jahr zu einem deutlichen Gewichtsverlust führen“, sagt Dr. Juan Franco von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er leitet die Düsseldorfer Cochrane Evidence Synthesis Unit (ESU), eine Arbeitsgruppe, die systematische Übersichtsarbeiten erstellt – und hat als Autor an allen drei jetzt veröffentlichten Cochrane Reviews mitgearbeitet. „Nach jahrzehntelangen erfolglosen Versuchen, wirksame Behandlungen für Menschen mit Adipositas zu finden, ist das ein bemerkenswerter Schritt nach vorn.“

    Die drei Wirkstoffe wurden ursprünglich zur Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt und beeinflussen auch die Appetitregulation. Liraglutid und Semaglutid sind so genannte GLP-1-Rezeptor-Agonisten. Tirzepatid hat einen etwas anderen Wirkungsmechanismus und wird als dualer GLP-1 und GIP-Rezeptor-Agonist bezeichnet.
    Inzwischen sind die Mittel auch zugelassen, um Menschen mit einem Body-Mass-Index ab 30 kg/m² beim Abnehmen zu unterstützen – allerdings nur in Kombination mit mehr körperlicher Aktivität und kalorienreduzierter Ernährung. Wenn Übergewichtige an einer Begleiterkrankung wie Diabetes, Bluthochdruck oder obstruktiver Schlafapnoe leiden, ist die Therapie schon ab einem Body-Mass-Index von 27kg/m² zugelassen. Hierzulande gelten die „Abnehmspritzen“ als Lifestylemittel; die Kosten werden von den gesetzlichen Krankenkassen in der Regel nicht übernommen.

    Alle drei neuen Cochrane Reviews vergleichen den Effekt der „Abnehmspritzen“ mit einer Scheintherapie – also mit einem Placebo. Sie zeigen folgendes:

    • Wird Tirzepatid einmal wöchentlich unter die Haut gespritzt, sinkt das Ausgangsgewicht nach 12 bis 18 Monaten im Mittel wahrscheinlich um rund 16 % (8 Studien mit 6 361 Teilnehmenden). „Wahrscheinlich“ schreiben die Cochrane-Autor*innen deshalb, weil sie sich wegen eines Verzerrungsrisikos in den Studien nicht ganz sicher sind, dass die beobachtete Wirkung der tatsächlichen Wirkung von Tirzepatid exakt entspricht. Die Autoren stufen die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse daher nicht als hoch, sondern nur als moderat ein.
    Eine Studie über dreieinhalb Jahre mit 1 023 Teilnehmenden legt nahe, dass die Menschen ihr Gewicht wahrscheinlich auf diesem Niveau halten können, wenn sie die Therapie so lange fortsetzen. Allerdings ist Tirzepatid eine Substanz mit einem neuen Wirkungsmechanismus („Twincretin“) – und es gibt dementsprechend noch kaum Daten zur Langzeitsicherheit.

    • Wird Semaglutid einmal wöchentlich unter die Haut gespritzt oder – nur in einer Studie –täglich als Tablette eingenommen, sinkt das Ausgangsgewicht nach 6 bis 17 Monaten im Mittel um knapp 11 % (15 Studien mit 8 651 Teilnehmenden). Dieses Ergebnis gilt als sicher, denn die Cochrane-Autor*innen stufen die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz als hoch ein. Diese Gewichtsreduktion bleibt nach zwei Jahren fortgesetzter Therapie wahrscheinlich bestehen.
    Die Analyse von zwei Studien mit 17.908 übergewichtigen Teilnehmer*innen, die fast alle bereits eine Herz-Kreislauferkrankung hatten und bis zu viereinhalb Jahre lang Semaglutid bekamen, zeigte zudem: Mit dieser Therapie kommt es bei diesen Risiko-Patient*innen wahrscheinlich etwas seltener zu erneuten, schwerwiegenden Herz-Kreislauf-Ereignissen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt. Im Studienzeitraum (bis zu viereinhalb Jahre) erlitten nur etwa 64 von 1000 Patient*innen erneut solche ernsten Herz-Kreislauf-Probleme. Zum Vergleich: Ohne Semaglutid – also mit einer Placebo-Spritze – waren es 78 von 1000 Risiko-Patient*innen. Diesen kleinen Unterschied bewerten die Cochrane-Autor*innen aber als wahrscheinlich klinisch kaum oder gar nicht relevant.

    • Für Liraglutid, das täglich unter die Haut gespritzt werden muss, reicht die Datenbasis nicht aus, um wirklich verlässlich zu sagen, wie viel Prozent ihres Körpergewichts schwer Übergewichtige in den ersten anderthalb Jahren im Schnitt verlieren. Sagen lässt sich aber: In knapp anderthalb Jahren gelang es etwa 64% der Studienteilnehmer*innen mit Liraglutid, ihr Ausgangsgewicht um mindestens 5% zu verringern. Ohne Liraglutid schafften das bloß etwa 30% der Teilnehmenden (18 Studien mit 6651 Teilnehmenden). Dieser positive Effekt von Liraglutid wird nach zwei bis drei Jahren wahrscheinlich etwas schwächer.
    Das Gewicht um mindestens 5% zu verringern, gilt in Leitlinien als wichtiges Ziel für Adipositas-Patient*innen, um die Gesundheit zu verbessern.

    Bei allen drei Mitteln treten vermehrt leichte bis moderate Verdauungsprobleme wie Übelkeit und Erbrechen auf. Wahrscheinlich sorgen diese unerwünschten Wirkungen bei einigen Semaglutid-Anwender*innen auf lange Sicht für Therapieabbrüche. Für die beiden anderen Präparate reichten die Daten nicht aus, um diese Frage ausreichend verlässlich zu klären. Auch zu etwaigen schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen der „Abnehmspritzen“ können die Cochrane-Autor*innen auf der aktuellen Datenbasis keine sicheren Aussagen treffen.
    Die drei Reviews zeigen auch: Im Augenblick laufen zu allen drei Wirkstoffen noch zahlreiche Studien. Insgesamt bleiben momentan einige Fragen offen. So fordern die Cochrane-Autor*innen mehr randomisiert kontrollierte Studien zu Langzeitwirksamkeit und Langzeitsicherheit der Präparate – und auch dazu, wie sich die Mittel langfristig auf die Herzkreislaufgesundheit auswirken. Damit soll klarer werden, welche Rolle die Medikamente bei der langfristigen Gewichtskontrolle spielen können. Die Autor*innen betonen zudem, dass herstellerunabhängige Studien notwendig sind, um Mediziner*innen und Gesundheitspolitiker*innen besser für ihre Entscheidungen zu informieren.

    Über die neuen Reviews:
    Die drei Reviews wurden im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO erstellt. Sie sollen in die geplante WHO-Leitlinie zur Anwendung von GLP-1-Rezeptor-Agonisten zur Behandlung von Adipositas einfließen.

    Über Cochrane Deutschland
    Cochrane Deutschland mit Sitz in Freiburg ist Teil der internationalen, gemeinnützigen Cochrane Collaboration. Dieses Netzwerk unabhängiger Wissenschaftler*innen erstellt systematische Übersichtsarbeiten zu verschiedensten medizinischen und gesundheitlichen Fragen – die so genannten Cochrane Reviews. Darin fassen die Forschenden die weltweite Studienlage zusammen und bewerten deren Qualität. Ziel ist es, dadurch eine evidenzbasierte, verlässliche Grundlage für medizinische und gesundheitspolitische Entscheidungen zu schaffen. Seit seiner Gründung 1993 hat das Netzwerk bereits etwa 9500 Cochrane Reviews veröffentlicht.
    Mehr Informationen unter www.cochrane.de


    Original publication:

    https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD016018/full?highligh... Cochrane Review zu Tirzepatid

    https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD015092.pub2/full Cochrane Review zu Semaglutid

    https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD016017/full?highligh... Cochrane Review zu Liraglutid


    More information:

    https://www.cochrane.de


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    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
    transregional, national
    Research results
    German


     

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