Die Leistungen des in jüngster Zeit vielfach kritisierten Bürgergelds liegen unterhalb der nationalen Armutsgefährdungsgrenze. Insofern ist fraglich, ob diese Mindestsicherung das vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 als Grundrecht anerkannte „menschenwürdige Existenzminimum“ gewährleisten kann. Aber nicht nur hierzulande bleibt die Bekämpfung der Armut ein unerreichtes Ziel. Eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik zeigt: In 16 untersuchten Ländern werden die Systeme der Mindestsicherung ihrem Anspruch, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen, meist nicht gerecht.
Neben Deutschland werden in dem Buch, das von Prof. Ulrich Becker und Dr. Irene Domenici herausgegeben und von Rechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus aller Welt verfasst wurde, die Mindesteinkommensregelungen in Italien, Spanien, Griechenland, Bulgarien, Frankreich, Irland, Norwegen, Polen, Slowenien, Japan, Brasilien, Chile, Mexiko, der Republik Korea sowie im Vereinigten Königreich analysiert. Die Untersuchung zeigt sowohl Fortschritte als auch anhaltende Schwächen in der Leistungsfähigkeit und Zugänglichkeit dieser Systeme auf.
Dabei haben sich die Autorinnen und Autoren auf drei Dimensionen konzentriert: 1. den normativen Hintergrund und die rechtlichen Verpflichtungen von Staaten, ein Existenzminimum zu gewährleisten; 2. das Zusammenspiel verschiedener Leistungssysteme bei der Erreichung dieses Ziels und den damit verbundenen Herausforderungen für einen wirksamen Schutz; 3. die Ausgestaltung, Angemessenheit und Umsetzung spezifischer Mindestsicherungssysteme.
Berechnung der Leistungen oft willkürlich
Die Höhe der Mindestsicherungsleistungen variiert stark im Verhältnis zu den jeweiligen Lebenshaltungskosten und Armutsgrenzen der Länder. In den meisten untersuchten Staaten liegen die Leistungen unterhalb der nationalen Armutsgefährdungsgrenze. Damit klafft eine deutliche Lücke zwischen dem im Recht festgelegten Anspruch und den tatsächlich gewährten Leistungen.
In erstaunlich vielen Rechtsordnungen beruht die Berechnung der Leistungsbeträge nicht auf einer objektiven, transparenten Methode und bleibt daher politischem Ermessen und haushaltspolitischen Zwängen überlassen. Dies zeigt sich besonders deutlich in Griechenland, aber auch in Bulgarien und Irland, wo die Leistungen häufig nicht einmal die Grundbedürfnisse decken. Nach einer sehr bescheidenen Erhöhung im Jahr 2024 beträgt das garantierte Mindesteinkommen in Griechenland gerade einmal 216€ pro Monat für einen Einpersonenhaushalt.
Das deutsche Bürgergeld in Höhe von 563 € pro Monat für alleinstehende Erwachsene (zuzüglich Wohnkosten) liegt im europäischen Mittelfeld, aber ebenfalls unterhalb der nationalen Armutsgefährdungsgrenze (1.381€ netto in 2024). Am besten aufgestellt sind nordische Länder wie Norwegen, die universelle Sozialdienste mit einkommensabhängiger kommunaler Unterstützung kombinieren. Sie können auf diese Weise angemessene Leistungen für ein Leben in Würde wesentlich besser gewährleisten.
Systemische und rechtliche Schwächen untergraben sozialen Schutz
Ein zentrales Problem ist die komplexe, zersplitterte und stark an Bedingungen geknüpfte Ausgestaltung vieler Mindestsicherungssysteme. Überlappende oder einander ausschließende Regelungen führen zu echten Lücken im sozialen Sicherheitsnetz. Zudem schließen strenge Bedürftigkeitsprüfungen und „Aktivierungsanforderungen“ insbesondere junge Erwerbsfähige häufig von der Unterstützung aus. Die in diesen Regelungen implizite Unterscheidung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen widerspricht dem Prinzip der Menschenwürde. Die Autorinnen und Autoren der Studie warnen zudem: Hierdurch könnten sich die Netze der letzten sozialen Absicherung in Systeme der Ausgrenzung verwandeln und viele Arbeitslose oder prekär Beschäftigte ganz ohne Einkommensschutz zurücklassen.
Während Deutschland und wenige andere Staaten über eine verfassungsrechtlich oder gerichtlich durchsetzbare Garantie des „Existenzminimums“ verfügen, beruhen entsprechende Zusagen in den meisten Ländern lediglich auf einfachgesetzlichen Regelungen oder politischen Verpflichtungen. Sozialhilfesysteme sind damit anfällig für politische Willkür. Selbst dort, wo verfassungsrechtlich einklagbare Rechte anerkannt sind, schützen diese oft nur den minimalen Kern des Rechts auf ein Leben in Würde.
Stärkung der Mindestsicherungssysteme
Aus vergleichender Perspektive wird deutlich, dass Länder viel voneinander lernen können, um ihre Systeme der Mindesteinkommenssicherung zu stärken. Trotz unterschiedlicher nationaler Kontexte lassen sich folgende Leitlinien für Reformen ableiten:
Modernisierung und Koordinierung der Systeme: Viele Staaten würden von einer besseren Koordination bestehender Armutsbekämpfungsmaßnahmen profitieren – insbesondere durch eine engere Verzahnung von Sozialhilfe, Sozialversicherung und steuerfinanzierten Leistungen. Der Abbau bürokratischer Hürden würde zudem einen gleichberechtigten und wirksamen Zugang zur Mindestsicherung verbessern.
Sicherstellung der Angemessenheit und regelmäßigen Anpassung: Unzureichende oder stagnierende Leistungsniveaus sind eine häufige Ursache für fortbestehende Armut. Mindesteinkommensleistungen müssen sich daher an objektiven Armutsgrenzen orientieren, die die tatsächlichen Lebenshaltungskosten widerspiegeln und regelmäßig automatisch angepasst werden.
Rechtliche und verfassungsmäßige Verankerung: Die feste Verankerung des Rechts auf ein würdiges Existenzminimum in der Verfassung oder in höherrangigen Gesetzen stärkt seine Durchsetzbarkeit. Die deutsche verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zeigt die Bedeutung verbindlicher rechtlicher Verpflichtungen für das Existenzminimum.
Reduzierung von Konditionalität und Sanktionshärte: Strenge Bedürftigkeitsprüfungen, Aktivierungspflichten und harte Sanktionen schließen häufig besonders schutzbedürftige Menschen von der Unterstützung aus. Strafende und ausschließende Mechanismen sollten durch fördernde Maßnahmen ersetzt werden, die den Zugang zu notwendiger Hilfe sicherstellen.
Bessere Verknüpfung mit Sozialdiensten: Die Kombination von Geldleistungen mit leicht zugänglichen, koordinierten Sozialdiensten – wie Gesundheitsversorgung, Wohnen, Bildung und Rehabilitation – ist unerlässlich für soziale Inklusion und eine nachhaltige Armutsbekämpfung.
Dr. Irene Domenici
Becker, Ulrich/Domenici, Irene (Hrsg.): Life in Dignity – A Comparison of National Approaches to Minimum Income Protection, Studien aus dem Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, Baden-Baden: Nomos, 2025.
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students
Law, Politics
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German

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