Flucht ist ein komplexer und Jahre währender Prozess. Das wird an den Ergebnissen einer großen Studie deutlich, für die Forschende der Ruhr-Universität Bochum und der Freien Universität Berlin über 1.200 Menschen befragt haben, die ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen haben. Der Fokus lag dabei auf Kolumbien, Mexiko sowie der Türkei und Jordanien. Die Studie arbeitet Faktoren heraus, die die Entscheidung, in die Heimat zurückzukehren, zu bleiben oder weiter zu migrieren, beeinflussen.
Das dreijährige Projekt „Stay, return, or move on Comparing the life strategies of forced migrants in Colombia, Jordan, Mexico, and Turkey as transit countries“ wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und schloss mit einem Symposium in Bochum ab. Neben Fachzeitschriftenaufsätzen wird ein Buch in Englisch im kommenden Frühjahr bei Edward Elgar erscheinen. Mehr Informationen auf der Projektwebseite: https://www.migration-violence.org/
Die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, muss häufig spontan gefasst werden. Die Fluchtmigration selbst ist ein oft mehrere Jahre andauernder Prozess, in dem sich die Lebensumstände, politischen Entwicklungen und Motive für ein Weiterwandern kontinuierlich verändern. „Die Umfrageergebnisse zeigen, dass zwischen dem Zeitpunkt, als die Befragten ihren Wohnort verlassen mussten, und dem Datum der Befragung im Schnitt mehr als sechs Jahre vergangen sind – obwohl die meisten angaben, dass sie anfangs gedacht hatten, ihr Heimatland nur für einige Monate verlassen zu müssen“, berichtet Studienleiter Prof. Dr. Ludger Pries von der Ruhr-Universität Bochum.
Gewalterfahrungen verunsichern
Rund ein Viertel der Befragten gab an, während ihrer ersten Migrationsbewegung Gewalt in verschiedenen Formen erlebt zu haben. Diese reichen von Finanzbetrug, finanzieller Ausbeutung oder verbalen Drohungen bis hin zu Entführung, Erpressung, bewaffneten Überfällen oder Inhaftierung. Dabei treten Soldaten und Sicherheitsbehörden, terroristische Gruppen und Milizen, aber auch Nachbarn, Vorgesetzte und Passant*innen sowie Kleinkriminelle und in Gruppen organisierte Kriminelle und in Einzelfällen sogar Mitarbeitende von NGOs als Widersacher auf. „Diese Befunde sind wichtig, weil Gewalterfahrungen in Transitländern den Wunsch nach Weitermigration in Länder bestärken, in denen mehr Sicherheit für Leib und Leben gegeben ist“, sagt Prof. Dr. Stephanie Schütze von der FU Berlin. „Die Studienergebnisse zeigen, dass der Globale Norden nicht vorrangig wegen der dortigen Wohlfahrts- und Sozialsysteme Ziel von Fluchtmigration ist, sondern wegen der erwarteten Sicherheit und Berechenbarkeit der allgemeinen Lebensumstände.“
Was Entscheidungen beeinflusst
Was trägt noch zu der Entscheidung bei, zu bleiben, zurückzukehren oder weiter zu migrieren? Die Forschenden haben die Ergebnisse der Befragungen und von 70 autobiografischen Erzählungen ausgewertet und geclustert. Hilfreich dabei ist das sogenannte VESPER-Modell, demzufolge Fluchtmigrierende ihre Lebenswirklichkeit in sechs Dimensionen gestalten: Verflechtungen beziehungsweise sozialen Netzwerken, Erfahrungen, Sozialisation, Präferenzen, Erwartungen und Ressourcen. Alle Aspekte tragen zur weiteren Planung des Lebens bei. Beispiel: Befragte, die konkrete Pläne für ihre Weitermigration angaben, kommunizieren weniger häufig mit Familienmitgliedern im aktuellen Transitland, dafür aber häufiger intensiv mit Familienmitgliedern im Herkunfts- und möglichen weiteren Ankunftsland. Wer im Transitland seltener Gewalt erlebt, plant häufiger als statistisch erwartet, in diesem Land zu bleiben. Menschen, die traditionelle familienbezogene Werte stark schätzen, planen eher zu bleiben, während diejenigen mit Plänen weiterzuziehen deutlich häufiger individuelles Vorwärtskommen in Bildung und Arbeit für wichtig halten.
Mehr Verständnis und Schutz für Migrierende
„Um Fluchtmigration angemessen verstehen und erklären zu können, ist eine Längsschnittperspektive auf den gesamten Lebenslauf, vor allem auf die Kontextbedingungen vor Verlassen des Herkunftslandes und während der forcierten Migration, notwendig“, so Ludger Pries. „Forcierte Migrierende verdienen Verständnis und besonderen Schutz.“ Da sie nach berechenbaren und nachhaltigen Lebenschancen für ein selbständiges Leben streben, sollten ihnen in Transit- und Ankunftsländern angemessene Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, vor allem an Beschäftigung, Bildung und Kultur geboten werden, folgern die Forschenden. Da sie oft ohne gültige Aufenthaltsdokumente migrieren müssen, sollten mehr Wege der Legalisierung eröffnet werden. Forcierte Migrierende sollten mehr Möglichkeiten erhalten, ihren Lebensschicksalen und Forderungen in der Öffentlichkeit die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen, zum Beispiel durch regelmäßige Erhebungen und Reports an nationale und internationale Gremien und durch Beiräte oder Vertretungsorgane auf internationaler und nationaler Ebene.
Zahlen und Fakten
Die Zahl der weltweit gewaltsam Vertriebenen hat sich von etwa 40 Millionen in den 1990er-Jahren auf über 123 Millionen Ende 2024 verdreifacht. Mehr als die Hälfte aller Fluchtmigrierenden sind innerhalb des eigenen Landes Vertriebene. Diejenigen, die einen amtlichen Asylstatus beantragen, machen weltweit nur etwa sieben Prozent aus. Mehr als zwei Drittel aller forcierten Migrierenden leben in Nachbarstaaten ihrer Herkunftsländer. Im Jahr 2024 wurden in Deutschland knapp 230.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. Zusammen mit den etwa 1,2 Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen machten diese Fluchtmigrierenden in Deutschland Ende 2024 weniger als zwei Prozent der Wohnbevölkerung aus – in der Türkei waren es vier, in Jordanien knapp sechs und im Libanon sogar zwölf Prozent. Allein für die sechs Länder Sudan, Kolumbien, Syrien, Demokratische Republik Kongo, Jemen und Afghanistan wurden mehr als 46 Millionen Schutzsuchende gezählt.
Prof. Dr. Ludger Pries
Fakultät für Sozialwissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 151 14072302
E-Mail: ludger.pries@ruhr-uni-bochum.de
Criteria of this press release:
Journalists
Politics, Psychology, Social studies
transregional, national
Research results
German

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