Vier neue Forschungsvorhaben aus Nordrhein-Westfalen beziehungsweise mit nordrhein-westfälischer Beteiligung werden ab dem Jahr 2026 neu in das Akademienprogramm, das gemeinsame Forschungsprogramm der deutschen Wissenschaftsakademien, aufgenommen. Die Fördersumme für alle vier Projekte beläuft sich auf insgesamt rund 42 Millionen Euro. Die in NRW u.a. in Aachen, Bielefeld, Bochum, Köln und Münster angesiedelten Projekte haben eine für die Forschung ungewöhnlich lange Laufzeit zwischen 15 bis 25 Jahren.
Das Akademienprogramm dient der Erschließung, Sicherung und Erforschung weltweiter kultureller Überlieferungen. Es ist derzeit das größte Langzeit-Forschungsprogramm für geistes- und sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung der Bundesrepublik Deutschland und wird von der Akademienunion koordiniert. Eine Chance auf Förderung haben nur exzellente Projekte von hoher wissenschaftlicher Relevanz mit einer Dauer von zwölf bis 25 Jahren. Die Finanzierung wird zur Hälfte vom Bund, zur Hälfte von den Ländern bereitgestellt.
Mit den vier neu ausgewählten Projekten werden künftig 19 Projekte an nordrhein-westfälischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen über das Akademienprogramm gefördert.
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dr. h.c. Gerd Heusch, Präsident der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste: „Natürlich sind wir als Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste stolz, dass ab 2026 gleich vier weitere Projekte von Forschenden aus unserem Bundesland im Rahmen des Akademienprogramms gefördert werden. Das sind sehr gute Nachrichten für unsere Akademie und den Wissenschaftsstandort Nordrhein-Westfalen. Die erfolgreichen Projekte unterstreichen zudem die Bedeutung der Geisteswissenschaften für unsere Gesellschaft. Denn alle vier Forschungsvorhaben tragen auf unterschiedliche, aber herausragende Weise dazu bei, dass unser kulturelles Erbe nicht verloren geht.“
Die neuen Projekte
Der Vatikan und die Verfolgung der Juden in Europa (Standorte in Münster und Berlin)
(Gemeinschaftsprojekt der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)
Während der Schoah wandten sich Tausende als jüdisch verfolgte Menschen in Bittschreiben an den Papst. Sie schilderten eindrücklich und teilweise ausführlich ihre Lebenssituation und das erfahrene Leid. Die Briefe zeugen aber auch von der Hoffnung auf Rettung. Sie wurden von Männern, Frauen und Jugendlichen aus ganz Europa geschrieben und bilden ein breites Spektrum von „Jüdisch-Sein“ vor und während der Zeit des Nationalsozialismus ab. Die Bittschreiben selbst, aber auch die Dokumente zu den Reaktionen des Vatikans und den dahinterstehenden internen Prozessen, sind für die Forschung erst seit dem Jahr 2020 in den vatikanischen Archiven zugänglich.
Insgesamt handelt es sich um etwa 10.000 Bittschreiben mit rund 17.000 Seiten in mindestens 17 Sprachen. Hinzu kommen mehr als 55.000 Blatt umfassende Dokumente zur Entscheidungsfindung im Vatikan in zwölf Sprachen. Drei Wissenschaftler der Universität Münster wollen diesen einmaligen und bisher unbekannten Datenschatz mit ihrem Team heben: Prof. Dr. Dr. h. c. Hubert Wolf, Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte und einer der besten Kenner der vatikanischen Archive, Prof. Dr. Michael Seewald, Professor für Dogmatik und Leibniz-Preisträger, und Prof. Dr. Jan vom Brocke, Professor für Wirtschaftsinformatik und Leiter des European Research Center for Information Systems (ERCIS). Sie verfolgen mit ihrem Forschungsvorhaben „Der Vatikan und die Verfolgung der Juden in Europa. Bittschreiben an den Papst und ihr Weg durch die vatikanischen Instanzen. Digitale Edition und Auswertung eines der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Quellenkorpus“ zwei Hauptziele:
Zum einen werden die Fallgeschichten, die sich hinter den Bittschreiben verbergen, rekonstruiert und gemeinsam mit den Briefen und den Entscheidungen des Vatikans in einer digitalen Edition publiziert. Zum anderen sollen durch die Auswertung der Quellen mithilfe modernsten KI-Methoden zwei zentrale Forschungsfragen beantwortet werden: Wer waren die Bittstellerinnen und Bittsteller, worum haben sie den Papst gebeten? Und was passierte mit den Bitten im Vatikan? Erstmals lassen sich auf diese Weise zudem offene Fragen zur Haltung des Papstes und der Kurie zur Schoah differenziert beantworten.
Die Dokumente, die Datensätze für alle in den Quellen erwähnten Personen und die rekonstruierten Fallgeschichten werden auf einer userfreundlichen und mehrsprachigen Webseite der Wissenschaft, aber auch der breiten Öffentlichkeit und insbesondere den Verfolgten und ihren Hinterbliebenen zur Verfügung gestellt.
Das Fördervolumen für dieses über 25 Jahre laufende interakademische Projekt beträgt insgesamt 15,4 Millionen Euro.
Die Krokodil- und Menschenmumien von Tebtynis (Standorte in Köln und Münster)
20.000 Fragmente hellenistischer Papyri lagern seit den 1930er-Jahren in der Bancroft Library auf dem Campus der University of California in Berkeley. Sie sind mit altgriechischen Texten unterschiedlichsten Inhalts beschriftet: Es handelt sich um Werke großer Literatur, königliche Erlasse, Teile amtlicher oder privater Korrespondenz, Verträge, offizielle Berichte, Steuerquittungen und viele andere Dokumente.
Rund 1.050 dieser Papyrusfragmente konnten bislang von der Forschung ganz oder teilweise erschlossen und publiziert werden. Der größte Teil dieser Sammlung ist jedoch noch unerforscht. Alle diese Schriftzeugnisse stammen aus derselben Grabungsstätte: Sie wurden im Winter 1899/1900 während archäologischer Ausgrabungen in der antiken Stadt Tebtynis (im heutigen Tell Umm el-Baragat im Fayum), einem wichtigen Kultzentrum des altägyptischen Krokodilgottes Sobek, entdeckt. Die Fragmente waren in vorchristlicher Zeit zur Herstellung von Mumien von Menschen und Krokodilen wiederverwendet worden, die in der Nekropole der Stadt bestattet waren.
Im Rahmen des Akademieprojektes „Die Krokodil- und Menschenmumien von Tebtynis: KI-gestützte Zusammenführung und editorische Erschließung hellenistischer Papyri der Bancroft Library (Berkeley)“ wollen Prof. Dr. Charikleia Armoni, apl. Professorin für Papyrologie an der Universität zu Köln und Kustodin der Kölner Papyrussammlung, Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt, Lehrstuhlinhaber für Klassische Philologie und Papyrologie an der Universität zu Köln, und Prof. Dr. Patrick Sänger, Professor für Alte Geschichte an der Universität Münster, die in der Bancroft Library aufbewahrten Objekte inhaltlich erschließen, editorisch bearbeiten und publizieren.
Durch den Einsatz geeigneter KI-gestützter Methoden (sog. fragment matching) wollen die Forschenden die vielen tausend unerschlossenen Fragmente, die sich beim Herauslösen aus den Mumien ergaben, zusammenführen und so den immensen Quellenwert dieser hellenistischen Papyrussammlung voll ausschöpfen. Das Akademieprojekt verfolgt das Ziel, ein internationales Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern für dieses Spezialgebiet aufzubauen, um mithilfe neuer methodischer Ansätze, die im Rahmen des Projekts zu entwickeln sind, papyrologische Quellen zu erschließen und so unsere Kenntnisse über das hellenistische Ägypten zu erweitern.
Unterstützt werden die Forschenden aus Köln und Münster bei dem umfassenden Editionsprojekt vom Center for the Tebtunis Papyri in Berkeley und dem Cologne Center for eHumanities (CCeH). Geplant ist eine Publikationsplattform, auf der die Ergebnisse des Projekts der internationalen papyrologisch-althistorischen Forschung und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Das Fördervolumen für dieses über 15 Jahre laufende Projekt beträgt insgesamt 4,34 Millionen Euro.
Edition Wissenschaftliche Software (Standorte in Aachen, Bielefeld/Halle und München)
(Gemeinschaftsprojekt der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina)
Die Digitalisierung verändert unsere Welt. Das gilt in besonderem Maße für die Wissenschaft. Nahezu jede Disziplin ist heute digitalisiert. Computersimulationen, auf Algorithmen basierende Analysen großer Datenmengen und Verfahren der Künstlichen Intelligenz gehören zum Alltagswerkzeug der Forscherinnen und Forscher.
Die Wissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten einen gewaltigen Transformationsprozess durchlaufen, der von der Forschung bislang aber kaum oder nur in Teilen beachtet wurde. Während die Hardware seit längerem Thema historischer Forschungen und Sammlungstätigkeiten ist, gilt das für die Software nicht.
Das wollen Prof. Dr. Gabriele Gramelsberger vom Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der RWTH Aachen, PD Dr. Ulf Hashagen, Leiter des Forschungsinstituts für Technik- und Wissenschaftsgeschichte des Deutschen Museums, Prof. em. Dr. Helmuth Trischler, Professor für Neuere und Neueste Geschichte sowie Technikgeschichte an der Universität München und Prof. Dr. Carsten Reinhardt, Professor für Historische Wissenschaftsforschung an der Universität Bielefeld mit dem Akademieprojekt „Edition Wissenschaftliche Software (EWS). Wissenschaftshistorische und wissenschaftsphilosophische Forschung und Edition zur Softwaregeschichte der Digitalen Wissenschaften von 1950 bis 2010“ ändern.
Die Forschenden verfolgen mit ihrem auf 21 Jahre angelegten Vorhaben folgende Ziele: Sie wollen den noch vorhandenen Bestand an wissenschaftlicher Software aus den Jahren 1950 bis 2010 systematisch erschließen, auswerten und edieren. Darüber hinaus soll eine neue Forschungslinie zur Softwaregeschichte der Digitalen Wissenschaft eröffnet werden. Und schließlich ist die Entwicklung von Archivierungsstandards geplant, die in einer offenen Online-Forschungsplattform zur Anwendung kommen sollen. Diese Partizipationsplattform richtet sich an die informierte Öffentlichkeit, insbesondere an pensionierte Forschende im Sinne von „Citizen Scientists“, die an entsprechenden Softwareprojekten mitgearbeitet haben.
Die Zeit drängt. Denn im Unterschied zu anderen historischen Quellen wie Tontafeln, Manuskripten oder Büchern handelt es sich bei wissenschaftlicher Software um fragile Zeitdokumente, die aktiv gesichert werden müssen. Wenn diese Quellen verloren gehen, kann die Softwaregeschichte der Digitalen Wissenschaft nicht mehr erforscht werden.
Das Fördervolumen für dieses über 21 Jahre laufende interakademische Projekt beträgt insgesamt rund 12,4 Millionen Euro.
Westgermanien im Wandel (Standorte in Göttingen und Bochum)
(Gemeinschaftsprojekt der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen)
Dem Nordwesten Deutschlands wird von der Forschung große Bedeutung beigemessen, wenn es um die Rekonstruktion der römisch-germanischen Interaktionen geht. Das Gebiet zwischen Weser, Rhein und Nordsee bildet exemplarisch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung „germanischer“ Gesellschaften ab, die in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends nach Christus in Wechselbeziehung mit dem Römischen Reich standen.
In den vergangenen Jahrzehnten fanden in diesem Raum zahlreiche Großgrabungen statt, die umfangreiches neues Quellenmaterial hervorgebracht haben. Doch während die wenigen über das Untersuchungsgebiet vorhandenen historischen Quellen seit langem in der Forschung diskutiert werden, sind die aus dem Untersuchungsraum bekannten, archäologischen Objekte und Strukturen bislang kaum publiziert und analysiert worden.
Deshalb soll nun im Rahmen des über eine Laufzeit von 18 Jahren angelegten Akademieprojektes „Westgermanien im Wandel - Edition und multidisziplinäre Erforschung der nordwestdeutschen Kulturlandschaft während der römischen Kaiserzeit (1.-4. Jahrhundert)“ eine Edition dieses bislang nahezu unbeachteten Kulturschatzes entstehen. Gleichzeitig werden die gewonnenen Erkenntnisse und archäologischen Quellen in einer digitalen Datenbank für weitergehende Forschungen bereitgestellt.
Geleitet und koordiniert wird das Forschungsvorhaben von Prof. Dr. Lorenz Rahmstorf vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen und Prof. Dr. Thomas Stöllner vom Institut für Archäologische Wissenschaften der Ruhr-Universität Bochum.
Verschiedene Kooperationspartner aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und der Denkmalpflege unterstützen das Projekt. Die bisher nicht ausgewerteten Quellen werden multidisziplinär und IT-gestützt durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fachbereichen Archäologie, Archäobiologie, Montanarchäologie, Archäometallurgie, Geschichte und Geoinformatik ausgewertet und analysiert. Die Forschenden nehmen dabei vier Hauptthemen in den Blick: die kulturelle Interaktion mit dem grenznahen römischen Imperium und der dadurch gegebenenfalls stimulierte, interne gesellschaftliche Wandel, die Siedlungsformen, die wirtschaftlichen Strukturen und die Umwelt- und Lebensbedingungen.
Bislang ist das Bild der „Germanen“ in der nordwest-deutschen Region von der Nachkriegsforschung ab 1945 geprägt und weist eklatante Wissenslücken auf. Das Akademieprojekt will dieses Bild neu zeichnen und gleichzeitig das Verständnis der gesamten nachantiken Geschichte West- und Mitteleuropas und der Bedeutung von kulturellen Kontaktzonen voranbringen.
Das Fördervolumen für dieses über 18 Jahre laufende interakademische Projekt beträgt insgesamt rund 10,7 Millionen Euro.
Dr. Fabian Schulz
Esther Polito
Criteria of this press release:
Journalists
interdisciplinary
transregional, national
Research projects
German

You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).