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12/18/2025 18:56

Menschen mit Sehverlust schätzen Ankunftszeit herannahender Fahrzeuge überraschend genau ein

Kathrin Voigt Kommunikation und Presse
Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    Neue internationale Forschung zeigt, wie Menschen mit altersbedingter Makuladegeneration visuelle und auditive Hinweise nutzen, um die Ankunftszeit herannahender Fahrzeuge einzuschätzen

    Menschen mit zentralem Sehverlust können die Bewegung von Fahrzeugen nahezu ebenso genau beurteilen wie Menschen mit normalem Sehvermögen – das zeigt eine neue internationale Studie. Trotz altersbedingter Makuladegeneration (AMD) schätzten sie den Zeitpunkt, zu dem ein herannahendes Auto sie erreichen würde, mit vergleichbarer Genauigkeit wie eine Kontrollgruppe mit normalem Sehvermögen. Dies sind die Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in Zusammenarbeit mit der Rice University in Texas, USA, sowie weiteren amerikanischen und französischen Forschungseinrichtungen. Die Studie verglich ältere Erwachsene mit AMD mit einer Kontrollgruppe mit normalem Sehvermögen in virtuellen Verkehrsszenarien. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Open-Access-Zeitschrift PLOS One veröffentlicht.

    Die neue Arbeit baut auf früheren Studien der Autorinnen und Autoren auf, in denen Ankunftszeitschätzungen bei normal sehenden Personen mithilfe von Virtual-Reality-Methoden untersucht wurden. Diesmal wollte das Team herausfinden, ob Menschen mit Sehbeeinträchtigungen stärker auf akustische Informationen angewiesen sind und ob die Kombination aus Sehen und Hören gegenüber rein visuellen Informationen einen Vorteil bietet. "Es gibt nur wenige Studien, die sich gezielt mit der Einschätzung möglicher Kollisionen bei Menschen mit Sehbeeinträchtigungen befassen", erklärt Prof. Patricia DeLucia, Wahrnehmungs- und Human-Factors-Psychologin an der Rice University. "Dabei erfordern alltägliche Situationen wie das Überqueren einer Straße oder die Orientierung in belebten Umgebungen gerade diese Fähigkeit."

    Entscheidungen auf Basis von Sehen und Hören

    Das experimentelle Design der Studie nutzte eine virtuelle Straßenszene, in der sich aus der Perspektive einer Fußgängerin oder eines Fußgängers ein Fahrzeug näherte. Das Virtual-Reality-System ermöglichte dabei realistische Simulationen der Fahrzeuggeräusche, die Prof. Dr. Daniel Oberfeld-Twistel, Experimentalpsychologe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, entwickelte. Die visuellen und auditiven Informationen wurden systematisch variiert: So wurde die Szene entweder nur visuell, nur auditiv oder mit beiden Sinnesmodalitäten gleichzeitig präsentiert. Die Teilnehmenden sollten in dem Moment einen Knopf zu drücken, in dem sie glaubten, das Fahrzeug würde sie erreichen. Mithilfe von an der JGU entwickelten Datenanalysemethoden liefert die Studie eine detaillierte Analyse der Hinweisreize, die den Schätzungen der Ankunftszeit zugrunde lagen. Sie zeigt zudem, wie Merkmale wie die optische Größe, die wahrgenommene Größenzunahme des Fahrzeugs oder die Schallintensität zu diesen Einschätzungen beitrugen.

    "Dank unseres hochentwickelten audiovisuellen Simulationssystems und der maßgeschneiderten Datenanalyse konnten wir sehr detaillierte Einblicke gewinnen, wie Fußgängerinnen und Fußgänger auditive und visuelle Informationen nutzen, um die Ankunftszeit eines herannahenden Fahrzeugs einzuschätzen", erklärt Prof. Dr. Oberfeld-Twistel. "Das geht deutlich über das hinaus, was aus bisherigen Studien bekannt war."

    Überraschenderweise schnitt die Gruppe mit AMD in beiden Augen bei der Einschätzung der Ankunftszeit sehr ähnlich ab wie die Gruppe mit normalem Sehvermögen. Zudem stellte das Forschungsteam fest, dass ältere Erwachsene mit AMD unter rein visuellen Bedingungen etwas stärker auf bildhafte oder heuristische Hinweise – etwa die Größe des Fahrzeugs auf der Netzhaut – zurückgriffen als normal sehende Teilnehmende. Waren jedoch sowohl visuelle als auch auditive Informationen verfügbar, zeigten beide Gruppen weiterhin eine vergleichbare Genauigkeit. Es ergab sich dann kein klarer Vorteil der Kombination von Sehen und Hören gegenüber dem Sehen allein.

    Keine Aussagen zur sicheren Navigation im realen Straßenverkehr

    "Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst ein reduziertes zentrales Sehvermögen noch nützliche Informationen für die Beurteilung herannahender Objekte liefert", erklärt Oberfeld-Twistel. "Menschen mit altersbedingter Makuladegeneration profitieren weiterhin von ihrem verbliebenen Sehvermögen, anstatt sich ausschließlich auf akustische Hinweise zu verlassen." Er weist jedoch darauf hin, dass in der Studie bewusst vereinfachte Virtual-Reality-Szenarien mit nur einem herannahenden Fahrzeug verwendet wurden.

    "Zukünftige Arbeiten müssen daher untersuchen, ob sich diese Befunde auch in komplexeren Umgebungen bestätigen lassen, etwa bei mehreren Fahrzeugen oder wenn die Fahrzeuge beschleunigen", ergänzt DeLucia. Solche Forschung könnte wichtige Impulse für die Entwicklung von Mobilitäts-, Rehabilitations- und Verkehrssicherheitskonzepten liefern.

    Neben der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Rice University waren an der Studie Forschende der University of Iowa, der Lamar University, von Retina Consultants of Texas, dem Davies Institute for Speech and Hearing sowie der Université de Toulouse beteiligt. Die Arbeit wurde durch das US-amerikanische National Eye Institute der National Institutes of Health (NIH) unter der Fördernummer R01EY030961 unterstützt. Der Inhalt liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorinnen und Autoren und spiegelt nicht notwendigerweise die offiziellen Auffassungen der National Institutes of Health wider.

    Bildmaterial:
    https://download.uni-mainz.de/presse/02_psychologie_verkehrssicherheit_abstandss...
    Screenshots aus den VR-Szenen der TTC-AMD-Studie: Das erste Videobild zeigt ein herannahendes Fahrzeug (oben) und das letzte Bild der Simulation zeigt das Fahrzeug kurz vor dem Verschwinden.
    Abb./©: © P.R. DeLucia et al., PLOS ONE, 2025 / CC BY 4.0

    Weiterführende Links:
    https://news.rice.edu/news/2025/field-lab-rice-study-reveals-how-people-vision-l... – Pressemitteilung der Rice University: "From field to lab: Rice study reveals how people with vision loss judge approaching vehicles"

    Lesen Sie mehr:
    https://presse.uni-mainz.de/weltweit-wecken-farben-aehnliche-gefuehle/ – Pressemitteilung "Weltweit wecken Farben ähnliche Gefühle" (10.09.2020)
    https://presse.uni-mainz.de/unregelmaessige-zeitwahrnehmung-bei-schizophrenie/ – Pressemitteilung "Unregelmäßige Zeitwahrnehmung bei Schizophrenie" (31.05.2017)
    https://presse.uni-mainz.de/metastudie-zeigt-veraendertes-zeitempfinden-bei-mens... – Pressemitteilung "Metastudie zeigt verändertes Zeitempfinden bei Menschen mit Depression" (03.03.2015)


    Contact for scientific information:

    Prof. Dr. Daniel Oberfeld-Twistel
    Allgemeine Experimentelle Psychologie
    Psychologisches Institut
    Johannes Gutenberg Universität Mainz
    55099 Mainz
    Tel.: 06131 39-39274
    E-Mail: oberfeld@uni-mainz.de
    https://www.staff.uni-mainz.de/oberfeld/index.html


    Original publication:

    P. R. DeLucia, D. Oberfeld-Twistel, J. K. Kearney, M. Cloutier, A. M. Jilla, A. Zhou et al., Visual, auditory, and audiovisual time-to-collision estimation among participants with age-related macular degeneration compared to a normal-vision group: The TTC-AMD study, PLOS One, 4. Dezember 2025,
    DOI: 10.1371/journal.pone.0337549
    https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0337549

    D. Oberfeld, M. Wessels, D. Büttner, Overestimated time-to-collision for quiet vehicles: Evidence from a study using a novel audiovisual virtual-reality system for traffic scenarios, Accident Analysis & Prevention 175, 106778, 22. Juli 2022,
    DOI: 10.1016/j.aap.2022.106778
    https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0001457522002135

    D. Oberfeld, M. Wessels, S. Kröling, Risiko hohe Beschleunigung? Straßenquerungsverhalten von Fußgänger:innen in Interaktion mit E-Fahrzeugen (mit und ohne AVAS) im Vergleich zu Verbrennern, Unfallforschung der Versicherer, Forschungsbericht Nr. 76, Gesamtverband der Versicherer, Berlin, 2022,
    ISBN 978-3-948917-07-4
    https://www.udv.de/resource/blob/84078/22741be085f0aa88579fe0c7362867c6/76-risik...


    Images

    Screenshots aus den VR-Szenen der TTC-AMD-Studie: Das erste Videobild zeigt ein herannahendes Fahrzeug (oben) und das letzte Bild der Simulation (unten) zeigt das Fahrzeug kurz vor dem Verschwinden.
    Screenshots aus den VR-Szenen der TTC-AMD-Studie: Das erste Videobild zeigt ein herannahendes Fahrze ...

    Copyright: P. R. DeLucia et al., PLOS ONE, 2025 / CC BY 4.0


    Criteria of this press release:
    Journalists, all interested persons
    Psychology, Traffic / transport
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Screenshots aus den VR-Szenen der TTC-AMD-Studie: Das erste Videobild zeigt ein herannahendes Fahrzeug (oben) und das letzte Bild der Simulation (unten) zeigt das Fahrzeug kurz vor dem Verschwinden.


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