Die medizinische Schmerzforschung floriert und es gibt Ratgeber zum Schmerz zuhauf. Was außen vor bleibt, ist die Frage, wie wir den Schmerz überhaupt erfahren. Diese Lücke schließt nun der Bochumer Philosoph Dr. Christian Grüny. Er hat in seiner Dissertation ein theoretisches Modell der Schmerzerfahrung entwickelt, das sich erstmals systematisch mit diesem Phänomen auseinandersetzt. Die Arbeit ist soeben unter dem Titel "Zerstörte Erfahrung" im Verlag Königshausen & Neumann erschienen.
Bochum, 05.10.2004
Nr. 282
Zerstörte Erfahrung
RUB-Philosophie: Wie wir Schmerz erfahren
Theoretisches Erklärungsmodell als Buch erschienen
Die medizinische Schmerzforschung floriert und es gibt Ratgeber zum Schmerz zuhauf. Was außen vor bleibt, ist die Frage, wie wir den Schmerz überhaupt erfahren. Diese Lücke schließt nun der Bochumer Philosoph Dr. Christian Grüny. Er hat in seiner Dissertation ein theoretisches Modell der Schmerzerfahrung entwickelt, das sich erstmals systematisch mit diesem Phänomen auseinandersetzt (Betreuer: Prof. Dr. Burkhard Liebsch, Prof. Dr. Hans-Ulrich Lessing, Institut für Philosophie der RUB). Die Arbeit ist soeben unter dem Titel "Zerstörte Erfahrung" im Verlag Königshausen & Neumann erschienen. Grünys Fazit darin: Der Anspruch der Philosophie, dem Schmerz einen Sinn zuzuschreiben, entfernt sich allzu weit von den unterschiedlichen, tatsächlichen Erfahrungen der Betroffenen und tut ihnen sogar Gewalt an.
Für ein breiteres Publikum
Grünys Arbeit unterscheidet sich deutlich von der medizinischen Forschung wie von der Ratgeberliteratur. Sein Buch wendet sich nicht nur an ein fachphilosophisches Publikum, sondern unter anderem auch an Mediziner und Therapeuten, die täglich mit Schmerzpatienten zu tun haben. Das Buch hilft, die Erfahrung von Schmerz auf eine neue Weise zu verstehen.
Algodizee: Was schmerzt, hat Sinn
Der Schmerz ist noch immer ein Randthema der Philosophie. "Diese Vernachlässigung hat Tradition", sagt Dr. Christian Grüny. "Zwar gibt es in der Geschichte der Philosophie kaum jemanden, der sich zu diesem Thema nicht geäußert hat, aber in der Regel bleibt es bei marginalen Bemerkungen - und bei einer allgemeinen Sinnsuche". Diese sei jedoch aufgrund unterschiedlicher Schmerzerfahrungen nicht angemessen. Zwar begibt sich wohl jeder Patient mit chronischen Schmerzen auf eine solche Sinnsuche, um die dauerhafte Schmerzerfahrung ertragen und verarbeiten zu können. Vorsicht sei jedoch vor allem dort geboten, wo ein Sinn auf eine Weise eingefordert wird, die einer Schuldzuweisung gleicht und vor allem der eigenen Beruhigung dient - dies sei letztlich nur eine unzulässige "Entschuldung des Schmerzes". "Die philosophische Frage nach dem Sinn wird leicht zu einer Algodizee, einer Rechtfertigung für den Schmerz", so Grüny.
Schmerz ist nicht gleich Schmerz
Grüny differenziert akuten Schmerz, chronischen Schmerz und Folter: Der "gleiche" Schmerz, der nur kurz anhält, dauerhaft ist oder von einem anderen systematisch zugefügt wird, ist eben nicht der gleiche, sondern diese unterschiedlichen Zusammenhänge verändern ihn selbst. An diesen Formen des Schmerzerlebens spielt Grüny in seinem Modell die Veränderungen durch, die Betroffene in Bezug auf Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Weltbeziehung und soziale Beziehungen erleben.
Akuter Schmerz, chronischer Schmerz, Folter
Beim akuten Schmerz ist die Episode auch des starken Schmerzes erträglich aufgrund des vorübergehenden Charakters, die Betroffenen haben die Aussicht auf eine schmerzfreie Zukunft. Der chronische Schmerz unterscheidet sich davon nicht nur durch seine zeitliche Dimension, sondern verändert allein aufgrund dieser Dauer seinen Charakter: Die Einschränkungen im Umgang mit der Welt sind deutlich spürbar, die zeitlichen Horizonte werden ganz vom Schmerz besetzt. Was nur als Episode bekannt war, soll nun Dauerzustand sein. In der Folter schließlich gipfeln all jene zerstörerischen Wirkungen des Schmerzes bzw. werden von außen bewusst auf die Spitze getrieben. Das Welt- und Selbstverhältnis und die sozialen Beziehungen dauerhaft zu schädigen, ist hier nicht Nebenprodukt, sondern eigentliches Ziel.
Der Autor
Dr. Christian Grüny, Jahrgang 1969, studierte Philosophie und Linguistik in Bochum, Prag und Berlin. 2003 wurde er am Institut für Philosophie der RUB promoviert. Seit 2001 lehrt er an der Universität Witten/Herdecke, seit 2003 ist er dort Assistent des Dekans an der Fakultät für das Studium fundamentale.
Titelaufnahme
Grüny, Christian: Zerstörte Erfahrung: Eine Phänomenologie des Schmerzes. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, 260 Seiten, 39,80 Euro, ISBN: 3-8260-2877-5
Weitere Informationen
Dr. Christian Grüny, Universität Witten/Herdecke, Fakultät für das Studium fundamentale, Alfred-Herrhausen-Str. 50, 58448 Witten, Tel. 02302/926-807, Fax: 02302/926-813, E-Mail: christian.grueny@uni-wh.de
Criteria of this press release:
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Philosophy / ethics, Religion
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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