Von Politik und Wirtschaft wird befürchtet, dass die Zunahme der Zahl der über Sechzigjährigen bis zum Jahr 2050 den Zusammenbruch der Pflege- und Krankenversicherung aufgrund einer brisanten Zunahme Pflegebedürftiger und chronisch Kranker herbeiführen wird. In einer Arbeit an der Europa Fachhochschule Fresenius, Idstein, ist diese Projektion auf ihre Plausibilität untersucht worden*. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Hochrechnung weitgehend an der ersichtlich tempogeladenen Entwicklung in der Medizin vorbeigeht. Neues Wissen und neue Techniken zur Prävention, Heilung und Rehabilitation von Versicherten verdrängen in immer kürzeren Zeitabständen überholte Diagnostik, Behandlung, Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen. Ein Beleg dafür ist, dass heute 60-Jährige erheblich gesünder sind als ihre Altersgenossen vor 20 Jahren.
Auch die Prognosen über die Steigerung der Beiträge für Krankenkassen- und Rentenversicherung leiden an mangelnder Flexibilität, neue Entwicklungen zu simulieren. Die Zahl der Arbeitskräfte - und damit Beitragszahler - orientiert sich danach nur an dem erwarteten demographischen Zustand im Jahr 2050 im Vergleich zum Jahr 2000 und nicht an Überlegungen, die Erwerbstätigkeitquote zu erhöhen und den Eintritt in das Rentnerdasein zu verschieben. Das chronologische Alter als Ausgangspunkt für langfristige Prognosen zu verwenden ist fahrlässig, wenn daraus sozialpolitischer Kahlschlag abgeleitet wird. Das biologische Alter der Menschen hat sich stark verschoben in höhere Altersgruppen und wird sich weiter verschieben.
Der Rehabilitationssektor wird seit Jahren ausgehungert. Eine Gesellschaft, die auf Humankapital angewiesen ist, kann sich jedoch auf Dauer unnötige Produktionsausfälle, Milliarden Lohnersatzleistungen und vorgezogene Rentenzahlungen nicht leisten, die eine Folge fehlender Rehabilitationsangebote sind. Um die Unterversorgung zu beseitigen, ist eine Vernetzung der Sektoren im Gesundheitswesen nötig mit einer Regelung der Stufen, die ein Patient zu durchlaufen hat. Primäre Prävention in Kindergärten und Schulen sollte der Gesundheitsschulung dienen. Im Fall einer Krankheit erfolgt die Akutversorgung im ambulanten Bereich oder, wenn nötig, im Krankenhaus. Bei einem chronischen Verlauf einer Krankheit wird der Patient aus dem teuren Akutbereich in die ambulante Rehabilitation mit sekundärer und tertiärer Prävention übernommen.
Eine Stärkung des Rehabilitationsbereichs führt zu Kosteneinsparungen, die nicht nur die Kranken- und die Pflegeversicherung, sondern auch die Rentenversicherung finanziell entlasten. Die isolierten Disease-Management Programme könnten durch Fachleute aus dem Rehabereich kostengünstiger umgesetzt werden. Andererseits finanzieren zurzeit die Krankenkassen die Rehabilitation Pflegebedürftiger, obwohl gerade die Pflegeversicherung ein Interesse daran haben muß, mit Rehabilitationsmaßnahmen den Pflegebedarf ihrer Klienten zu senken. Die Übergänge von der Pflegestufe I in die Pflegestufen II oder III ließe sich durch Rehamaßnahmen vermeiden oder zumindest zeitlich verzögern. Die Rentenversicherung hat an der Rehabilitation ein ökonomisch bedingtes Eigeninteresse, da sie durch Rehamaßnahmen kürzere Rentenzeiten zu finanzieren hat und mit einer längeren Beitragszahlung rechnen kann.
Prof. Dr. Jens Jessen
Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie
Europa Fachhochschule Fresenius, Idstein
*Chancen der Rehabilitation im deutschen Gesundheitssystem
Criteria of this press release:
Economics / business administration, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Studies and teaching
German
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