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11/30/2004 17:49

Dieter Dohmen, FiBS: Bund, Länder und Kommunen für konsequente Bildungsreformen gemeinsam gefordert

Birgitt A. Cleuvers Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS)

    "Dem deutschen Bildungssystem drohen wieder mittelmäßige Ergebnisse, heute die OECD-Studie zu den Kitas und nächste Woche die PISA-Studie zu den Schülerleistungen. Die Kindergarten-Studie birgt dabei trotz der fest gestellten positiven Aspekte einigen Sprengstoff. Konsequente Bildungsreformen sind aber notwendig und machbar - jenseits der Parteipolitik", meint Dr. Dieter Dohmen vom Kölner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in seinem Kommentar.

    "Dieses Dynamit steckt dabei aber nicht in den richtigen Hinweisen auf einige Verbesserungspotenziale, wie die niedrigen Versorgungsquoten im Westen, die ErzieherInnen-Ausbildung etc. Erforderlich sind nun nicht zu theoretisch ausgebildete Uni-AbsolventInnen, sondern praxisorientiert ausgebildete FachhochschülerInnen. Qualität lohnt sich - nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Gesellschaft und den Staat - und hierzu sind hoch qualifizierte und motivierte ErzieherInnen, die die Entwicklung des Kindes optimal fördern können, unabdingbar.

    Der angesprochene Sprengstoff des Berichts liegt aber an einem ganz anderen Punkt, nämlich der Frage, welche Rolle der Bund etwa bei der Festlegung von Versorgungsquoten und Qualitätsstandards, des Erreichens sozialer Ziele und der Finanzierung spielen soll. Diese Hinweise der OECD-Experten werden den LänderministerInnen ein gewaltiger Dorn im Auge sein, schließlich wehren sie sich gegen ein stärkeres Engagement des Bundes. Jenseits aller parteipolitischen Präferenzen geht die Forderung der OECD aber in die richtige Richtung und das aus verschiedenen Gründen. So bedeutet Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, dass ein Kind in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen die gleichen Betreuungs- und Bildungschancen haben sollte wie ein Kind in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Auch sollten die Mütter die gleichen Chancen zur Erwerbstätigkeit haben. Dies ist aber bei Betreuungsquoten von deutlich unter 5 % der jeweiligen Altersgruppe im Westen gegenüber 36 % im Osten im Krippenbereich nicht der Fall; und es gilt trotz höherer Quoten auch für den Hortbereich.

    Eine bessere Versorgungsquote rechnet sich für die öffentlichen Haushalte ebenso wie eine bessere Qualität. Das zentrale Problem ist jedoch, dass Kosten und Erträge auseinander fallen. Dies lässt sich leicht an zwei Beispielen verdeutlichen: Die Kitas werden überwiegend durch die Kommunen finanziert. Ermöglicht eine bessere Versorgung einer Frau die Erwerbstätigkeit, profitiert die Kommune, wenn sie keine Sozialleistungen mehr zahlen muss und auch noch Steuereinnahmen verbuchen kann. Dies würde sich zusammen genommen prinzipiell rechnen, aber eben nur, wenn es sich um eine Sozialhilfebezieherin handelt. Andernfalls rechnet es sich für die Kommune nicht. Die größten Nutznießer sind Bund und Land, die 85 % der Lohnsteuer erhalten, die Kommune aber nur 15 %. Bei einem Bruttoeinkommen von EUR 2.000 fallen gut EUR 350 Steuern an. Die Kommune bekommt davon EUR 50, Bund und Land je 150 Euro. Die Sozialversicherungen bekommen weitere EUR 400. Ein Platz kostet aber monatlich zwischen EUR 400 und 700, also rund 10 mal mehr als die Kommune von den Steuern bekommt. Warum sollte also ein kommunaler Kämmerer, der klamme Kassen zu verwalten hat, sein Plazet geben?

    Wenn die Kitas qualitativ gut sind, dann sind die Kinder hinterher in der Schule besser und sie bleiben vielleicht nicht sitzen. Hiervon profitiert aber vor allem das Land, das für die Finanzierung der Schulen zuständig ist. Benachteiligte Kinder aus sozial schwachen oder Migrationsfamilien finden zudem vielleicht leichter einen Ausbildungsplatz und brauchen keine Nachqualifizierung, die der Bund bzw. die Arbeitsagentur finanziert. Wiederum stellt sich die Frage, warum der kommunale Kämmerer dies finanzieren sollte? Standortfaktor Familie und Beruf sind schöne Argumente, aber zunächst keine wirklichen Geldbringer. Nur wenn sich das Sozialhilferisiko des Kindes langfristig verringern würde, könnte die Kommune profitieren. Aber wer weiß schon, wo das einst geförderte Kind dann lebt?

    Diese Argumente machen deutlich, dass das Gegenteil dessen, was derzeit in der Föderalismuskommission diskutiert wird, richtig wäre: Nicht "Bund raus" (aus dem Hochschulbereich), sondern "Bund rein" in die Mit-Zuständigkeit für alle Bildungsbereiche wäre richtig, trotz all der Probleme und Streitigkeiten, die das mit sich bringen würde. Wie in den meisten OECD-Ländern sollten die Zielvorgaben und Standards zentral festgelegt werden und bundesweit gelten, über die konkrete Umsetzung sollte dezentral vor Ort entschieden werden.
    Die Bedeutung, die der Kita-Bereich für die nachgelagerten Bildungsbereiche hat, wird uns in der kommenden Woche wieder vor Augen geführt werden, wenn die OECD die neue PISA-Studie veröffentlicht. Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die deutschen Schüler zwar etwas bessere Listenplätze erreicht haben als vor drei Jahren. Gleichzeitig gibt es aber kein Land, in dem der Zusammenhang zwischen schulischen Leistungen und sozialer Herkunft so groß ist wie in Deutschland. Wichtig wäre der Kita-Bereich vor allen Dingen, wenn er nicht nur aus der Perspektive der Betreuung, sondern auch und gerade unter dem Blickwinkel der Bildung und Kompensation von Nachteilen betrachtet würde. Die Kinder aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund brauchen Krippe und Kindergarten aus kompensatorischen Gründen, und zwar gerade wenn die Eltern die erforderliche Förderung nicht leisten können.

    Aus den bereits verlautbarten Ergebnissen der PISA-Studie könnte man nun zunächst folgern, dass die deutschen SchülerInnen nicht noch schlechter abgeschnitten haben als beim letzten Mal, was ja auch schon etwas ist, wenn man denn kleine Brötchen backen will. Für eines der (zumindest noch) wirtschaftlich führenden Länder ist das Resultat aber wahrlich nicht befriedigend. Statt dessen wird ab Dienstag wieder das allgemeine politi-sche Lamento einsetzen.
    Die einen werden darauf hinweisen, dass gerade ihr Bundesland doch viel besser sei - wie die letzte PISA-Studie gezeigt habe - und die Gesamtbetrachtung aus ihrer Sicht nicht viel aussage. Die anderen werden darauf verweisen, dass seit der letzten PISA-Studie vor drei Jahren doch wahrlich nicht viel passieren konnte, weil es halt seine Zeit braucht, bis diese Reformen erste Erfolge zeigen. Wieder andere werden eine Schulstrukturreform einfordern, die von den ersten wieder heftig bestritten wird ... und so wird sich die politische Diskussion wieder im Kreise drehen.

    Warum ist es in Deutschland so schwer, zu einer sach- und fachkundigen Diskussion zu kommen, die nicht permanent von Ideologie und Parteipolitik überlagert wird, und warum dauern Veränderungsprozesse so lange?
    Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels von der letzten Fussball-Europameisterschaft deutlich machen: Im Gruppenspiel gegen die Niederlande lagen die Tschechen zur Halbzeit 2:0 zurück. Sie haben danach konsequent auf Angriff gesetzt, zwei Angreifer eingewechselt und am Ende 3:2 gewonnen. Dagegen wechselte die deutsche Mannschaft im alles entscheidenden Gruppenspiel beim Stande von 2:1 für die Niederlande zehn Minuten vor Schluss einen Verteidiger ein, verlor - natürlich nur unglücklich - und schied aus. Das Bild zeigt vor allem eins: Wer handelt und sich nach vorne orientiert, kann gewinnen, wer nur zögerlich auf Verteidigung und Rechtfertigung bedacht ist, hat bereits verloren.

    Die BildungsministerInnen werden dieser Aussage vermutlich entgegenhalten, dass sie so nicht zutreffe. Schließlich hätten sie noch nie so viel diskutiert und vielleicht sogar verändert wie nach PISA. Das stimmt - aber nur teilweise. In allen Ländern passiert etwas, aber eher zögerlich und vor allen Dingen bleiben grundlegende und umfassende Veränderungen des Gesamtsystems bisher aus. Verändert werden immer nur einzelne Bausteine, dies meist unsystematisch und über Jahre verteilt und meistens halbherzig wie die längst überfällige praxisorientierte Reform der Lehrerausbildung. Die Umstellung auf Bachelor und Master ist völlig ungeeignet. Warum braucht es einen Lehramts-Bachelor, wenn die pädagogische Ausbildung erst mit dem Masterstudium anfängt und dies nicht z.B. mit einer Assistant Teacher-Qualifikation verbunden ist? Dies könnte gleichzeitig die Gesamtausbildungszeit verkürzen, indem das Referendariat ersetzt werden könnte. Viele weitere Beispiele lassen sich finden.
    Garantiert wird auch die Diskussion über die Schulstruktur wieder mit den gleichen peinlichen und meist ideologischen Argumenten geführt werden. Die Gegner bleiben völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass die meisten führenden PISA-Länder offensichtlich trotz (oder sogar wegen?) einer längeren gemeinsamen Schulzeit bessere Ergebnisse haben als die deutschen Schüler, die meist nach der vierten Klasse selektiert und segmentiert werden. Verwiesen wird zudem darauf, dass mit Bayern und Baden-Württemberg die Länder noch am wenigsten schlecht sind, die am stärksten auswählen. Bei den Befürwortern wird übersehen, dass viele Lehrkräfte - und keinesfalls alle! - bereits mit den jetzigen homogenen Klassen überfordert sind und es ihnen an der Fähigkeit mangelt, mit heterogenen Gruppen umzugehen. Bevor jetzt wieder diesen LehrerInnen ein pauschaler Vorwurf gemacht wird, sollte man berücksichtigen, dass sie es auch nicht lernen, weder in der Aus- noch in der Fortbildung, wenn sie denn Letztere überhaupt durchlaufen. Ferner schleppen Schulen teilweise unmotivierte, ungeeignete oder "verbrannte" LehrerInnen mit sich herum, die mit Sicherheit keinen positiven Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler und deren Leistungsentwicklung - und häufig auch nicht auf die KollegInnen - haben. Beamtenrecht hin oder her, solche Lehrer gehören nicht an die Schule! Schließlich sind die Qualifikation der Lehrkräfte und die Qualität des Unterrichts ganz zentrale Einflussfaktoren auf die Schülerleistungen - viel wichtiger übrigens als Geld oder Klassengröße, wie viele Studien deutlich zeigen. Gute und motivierte Lehrkräfte, die es selbstverständlich gibt, sollten zudem entsprechend belohnt werden. Ohne eine grundlegende Reform der Lehreraus- und -fortbildung wird aber jede Reform der Schulstruktur im Desaster enden. Nur am Rande sei ferner erwähnt, dass eine Reform der Schulstruktur sich in vielen ländlichen Regionen kaum vermeiden lassen wird, wenn im Zuge des demografischen Wandels die Schülerzahlen für ein gegliedertes Schulsystem nicht mehr ausreichen.

    Es wird endlich Zeit für eine umfassende und durchdachte Reform des Bildungssystems von der Kita bis zur Hochschule. Dies erfordert Maßnahmen, die ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind und gleichzeitig, aber auch nacheinander stattfinden, damit deutsche Schüler bereits 2006 nicht mehr unterdurchschnittlich sind. Nutzen wir das immense Potenzial, das u.a. durch Nachqualifizierungen und überlange Bildungszeiten verschwendet wird, um ein qualitativ hochwertiges und zukunftsfähiges Bildungssystem zu entwickeln. Nur so lässt sich auch der demografische Wandel bewältigen. Bedenke: Die Abiturienten 2020 und die Hochschulabsolventen 2025 haben gerade mit dem Kindergarten angefangen und die Kinder, die wir jetzt nicht erreichen, erreichen wir nie mehr. Bund, Länder und Kommunen sind gemeinsam gefordert - nicht einsam."

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    Kontakt: Birgitt A. Cleuvers (FiBS), Tel. 02 21 / 550 95 16
    Wir freuen uns über einen Hinweis auf Ihre Berichterstattung. Vielen Dank!


    More information:

    http://www.fibs-koeln.de


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    Criteria of this press release:
    interdisciplinary
    transregional, national
    Research results, Science policy
    German


     

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