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11/19/1997 00:00

Zukunft gestalten - aber wie

Dr. Gerhard Trott Medien und News
Universität Bielefeld

    Pressemitteilung Nr. 93/1997, 18. November 1997

    Zukunft gestalten - aber wie? Theorie sozialer Netzwerke und die Praxis der Sozialwissenschaften Tagung in Bielefeld

    Der Netzwerkbegriff erlebt seit einigen Jahren in einer Reihe sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Disziplinen einen Boom, z.B. in der Diskussion über Unternehmensnetzwerke, Innovationsnetzwerke, Politiknetzwerke, Techniknetzwerke oder Forschungsnetzwerke. Gemeinsamer Fokus dieser Diskurse ist der Versuch, eine neue Qualität sozialer Interaktionsbeziehungen zu beschreiben: Die vertrauensvolle Kooperation sozialer Akteure, die zwar autonome Interessen verfolgen, jedoch ihre Handlungen mit denen anderer Akteure derart koppeln, daß der Erfolg ihrer Strategien vom Erfolg ihrer Partner (und damit vom Funktionieren ihrer Kooperationsbeziehung) abhängt.

    Verbreitet ist die Wahrnehmung, daß soziale Netzwerke Basis und Motor von Innovationen sind; sie werden damit immer wichtiger für die Zukunftsgestaltung in modernen Gesellschaften, in denen das freie Spiel der Marktkräfte nicht mehr greift und traditionelle Muster staatlicher Politik nicht mehr funktionieren. Soziale Netzwerke bilden einen Dreh- und Angelpunkt für Strategien der Modernisierung polyzentrischer Gesellschaften, was sie sowohl aus theoretischer als auch praktisch-politischer Perspektive interessant macht.

    Diese beiden Facetten der Netzwerkdiskussion waren Thema der Tagung "Soziale Netzwerke und gesellschaftliche Modernisierung", die auf Einladung der Sektion Wissenschafts- und Technikforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 7. und 8. November an der Universität Bielefeld stattfand. Im Mittelpunkt der Tagung stand der Versuch, eine Bestandsaufnahme der Netzwerkdiskussion vorzunehmen, die Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Netzwerk-Ansätze zu diskutieren und den praktischen Nutzen des Netzwerk-Konzepts auszuloten. Strittig blieb die Frage, ob Netzwerke im Sinne Walter Powells ein spezifischer, durch das Merkmal vertrauensvoller Kooperation gekennzeichneter Interaktionstyp sind, der sich von den Typen 'Markt' bzw. 'Hierarchie' grundlegend unterscheidet. Dieser These, die u.a. von Johannes Weyer (Universität Bielefeld, Tagungsleitung) vertreten wurde, widersprach Arnold Windeler (Freie Universität Berlin), der vorschlug, den Netzwerkbegriff breiter anzulegen, um auch andere Formen sozialer Koordination (z.B. machtbasierte bzw. hierarchische) in den Blick zu bekommen. Eine Reihe von Vorträgen befaßte sich mit der Funktionsweise und der Stabilität derartiger asymmetrischer Netzwerke, die in der Regel von einem fokalen Unternehmen geführt werden. Eckhard Heidling (Institut für Sozialforschung München) beschrieb das Kfz-Handwerk aus dieser Perspektive ebenso wie Jörg Abel (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg) den Prozeß der ICE-Entwicklung. Beide zeigten jedoch, daß Innovationen erst dann zustandekommen, wenn traditionelle Abhängigkeitsstrukturen in neuartige Formen der Kooperation autonomer, strategiefähiger Akteure transformiert werden.

    Einen Schritt weiter ging Gerd Bender (VDI Berlin), der am Beispiel des GSM-Mobilfunks die These der simultanen Konstruktion technischer und sozialer Wirklichkeiten demonstrierte: Die sozialen Institutionen und die technischen Produkte werden in einem Zug entwickelt; es gibt im Sinne Bruno Latours kein Drinnen und Draussen, denn technische und soziale Innovationen sind unauflösbar verwoben. Der Vortrag von Markus Brozio (RWTH Aachen) über neue Fertigungskonzepte in der Textilindustrie lieferte weiteres Anschauungsmaterial für diese These, denn auch in dem von ihm präsentierten Fall umfaßte das soziale Netzwerk sowohl die Kooperation der Technologieentwickler als auch den (innovativen) technologischen Prozess der Textilherstellung.

    Etliche Fragen der Theorie sozialer Netzwerke konnten nicht abschließend geklärt werden, und auch die Anschlüsse an die Sozialtheorie etwa in Richtung Spieltheorie oder Theorie funktionaler Differenzierung zeichneten sich erst in Ansätzen ab. Trotz dieser Theoriedefizite hat das Netzwerk-Konzept seine Brauchbarkeit für die Praxis bereits unter Beweis gestellt, wie Ursula Ammon und Guido Becke (Sozialforschungsstelle Dortmund) am Beispiel der Entwicklung neuer Verfahren des Unterbodenschutzes bei Pkws demonstrierten. Vernetzung fungiert hier als eine Strategie der Risikoabsorption, die in einem breiten und oftmals recht komplizierten Aushandlungsprozeß zu Innovationskorridoren führt, die für einzelne Akteure zu riskant wären. Auch Thomas Becker (Transferzentrum für angepaßte Technologien Rheine) zeigte am Beispiel der Entwicklung angepaßter Technologien das spezifische Problemlösungspotential von Netzwerken, das darin besteht, Innovationen in Zonen der Unsicherheit zu ermöglichen.

    In diesen wie in anderen Fällen haben Sozialwissenschaftler/innen den Anstoß zur Kooperation gegeben und die Abstimmungsprozesse moderiert. Die Soziologie zeigt damit, daß sie nicht nur vom Interesse einer theoretischen Durchdringung der Gesellschaft getrieben wird, sondern auch bereit und in der Lage ist, einen Beitrag zur Gestaltung gesellschaftlicher Zukunftsperspektiven zu leisten (wobei die Rückkopplung praktischer Erfahrungen in theoretische Konzepte spannend und lehrreich ist).

    Fortschritte im Umweltschutz oder die Modernisierung von Industriebranchen angesichts drohender Arbeitsplatzverluste sind Ziele, die Sozialwissenschaftler/innen auf ihre Fahnen geschrieben haben. "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert es kommt darauf an, sie zu verändern", schrieb Karl Marx anno 1845 in seiner 11. Feuerbachthese. Die Sozialwissenschaften sind auf dem Wege, diese Aufforderung in die Tat umzusetzen.

    Johannes Weyer


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    Criteria of this press release:
    Social studies
    transregional, national
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    German


     

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