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05/15/2006 08:12

Dr. Leopold-Lucas-Preis 2006: René Girard

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Universität Tübingen zeichnet Gelehrten aus Stanford aus

    Am Dienstag, dem 16. Mai 2006, verleiht die Evangelisch-Theologische Fakultät im Namen der EBERHARD KARLS UNIVERSITÄT TÜBINGEN den mit 40.000 Euro dotierten Dr. Leopold-Lucas-Preis an den Kulturwissenschaftler René Girard von der Stanford University.

    Die Fakultät zeichnet René Girard, wie es in der Verleihungsurkunde heißt, aus, "in Würdigung seiner literatur- und kulturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Studien zu den Fundamenten des menschlichen Zusammenlebens, seiner Erforschung der Dynamik fehlgeleiteter Transzendenzbeziehungen, seiner Offenlegung der Ursprünge menschlicher Neigung zur Gewalt sowie insbesondere seines Nachweises ihrer Eindämmung und Überwindung durch die authentischen, kritischen und heilsamen Kräfte der Religion."

    Der Festakt aus Anlass der Preisverleihung findet um 17.15 Uhr im Festsaal der Neuen Aula, Wilhelmstr. 7 statt. Die Laudatio auf den Preisträger hält der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Prof. Dr. Eilert Herms. René Girard hält anschließend den Festvortrag zum Thema: "Knowledge and the Christian Faith in the Twenty-first Century".

    Ebenfalls am 16. Mai findet um 14 Uhr in Raum 117, Alte Botanik, Wilhelmstr. 5 ein Pressegespräch mit René Girard statt.

    Der Dr. Leopold-Lucas-Preis würdigt alljährlich hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Theologie, der Geistesgeschichte, der Geschichtsforschung und der Philosophie. Er ehrt dabei insbesondere Persönlichkeiten, die zur Förderung der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern wesentlich beigetragen und sich durch Veröffentlichungen um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben. Zu den bisherigen Preisträgern gehörten namhafte Wissenschaftler wie Karl Rahner, Paul Ricoeur, Raimund Popper oder Michael Walzer, aber auch hervorragende politische Repräsentanten des Geistes und der Kultur wie Richard von Weizsäcker, Léopold Sédor Senghor, der frühere senegalesische Staatspräsident, oder Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama. Die Auszeichnung wurde 1972 von dem am 9. Juli 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Eberhard Karls Universität, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommenen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas, gestiftet.

    René Girard wurde 1923 in Avignon geboren, studierte Mediävistik in Paris und wurde 1947 mit einer Arbeit über das Privatleben in Avignon im 15. Jahrhundert promoviert. Nach einer zweiten Dissertation 1950 an der Indiana University blieb Girard in den USA, wo er 1957 bzw. 1961 Professor in Baltimore und 1968 in Buffalo wurde, bevor er 1976 nach Baltimore zurückkehrte. Von 1980 bis 1995 war er Professor in Stanford. Im März 2005 wurde er zum Mitglied der Académie Francaise gewählt.

    Ein starkes internationales Echo fand Girard durch seine grundlegende und wegweisende kulturtheoretische Studie "Das Heilige und die Gewalt", Zürich 1987. Hier wird in schonungslosem Realismus das Problem der Gewalt und ihrer Eindämmung als Zentralproblem der Kultur gesehen. Die im mimetischen Begehren gründende und sich aus dieser Quelle ständig reproduzierende Gewaltneigung des Menschen verlangt nach Wegen ihrer Bändigung. Diese sieht Girard vor allem von den Religionen gewiesen. Im Gegensatz zu einer heute überwiegenden Sicht kommt also für Girard Religion nicht als Quelle von Gewalt sondern als Mittel zu ihrer Bändigung in Betracht. So kann etwa der "Sündenbockmechanismus" als ein Versuch der Einhegung von Gewalt mit den Mitteln des Ritus verstanden werden. Gleichzeitig insistiert Girard jedoch darauf, dass eine radikale Bearbeitung des Gewaltproblems erst gelingt, wenn dessen eigentliche Quelle erreicht wird: die Gewalt erzeugenden Gestalten des menschlichen Begehrens. Hier sieht Girard das eigentliche Leistungspotential der jüdisch-christlichen Tradition. Seine Apologie des Christentums - "Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz", München 1999 - beschreibt die Offenbarung der Machtlosigkeit des Bösen. Diese Offenbarung verwandelt das Begehren an der Wurzel: Sie erlöst es aus seiner Gewalt erzeugenden und befreit es zu einer Gewalt vermeidenden Gestalt. Ob freilich dieses Potential geschichtlich ausgenutzt oder verspielt wurde, bleibt eine drängende kritische Frage, die ihre Erörterung und Beantwortung im interdisziplinären Gespräch aller Human- und Kulturwissenschaften verlangt.

    Dr. Leopold Lucas wurde am 18. September 1872 in Marburg geboren. Er entstammte einer seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Marburg ansässigen jüdischen Familie. Lucas studierte in Berlin Geschichte und jüdische Wissenschaft sowie Philosophie und orientalische Sprachen. 1895 wurde er in Tübingen mit einer Dissertation über die "Geschichte der Stadt Tyrus zur Zeit der Kreuzzüge" zum Doktor der Philosophie promoviert. Im Jahre 1899 wurde er als Rabbiner nach Glogau berufen. Er diente dieser traditionsreichen jüdischen Gemeinde vier Jahrzehnte lang als Lehrer, Prediger und Seelsorger. Unermüdlich war Leopold Lucas während seines ganzen Lebens wissenschaftlich tätig. Sein besonderes Arbeitsgebiet war die Geschichte der Juden in den ersten christlichen Jahrhunderten. Lucas war 1902 Initiator der "Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums", deren Leitung er sich mit Martin Philippson teilte. Im Jahr 1940 folgte Lucas einem Ruf an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin - zu einer Zeit also, in der die Vernichtung der Juden in Deutschland beschlossene Sache war und begonnen hatte. Am 17. Dezember 1942 wurde Leopold Lucas zusammen mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert. Auch hier wirkte er noch als Seelsorger seiner Leidensgenossen. Er erlag am 13. September 1943 den Strapazen des Konzentrationslagers. Frau Dorothea Lucas wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz verschleppt und umgebracht.

    Für Nachfragen:

    Prof. Dr. Eilert Herms
    Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät
    Liebermeisterstr. 12
    72076 Tübingen
    Tel.: (0 70 71) 29 7 25 38, Fax: 29 54 15
    E-Mail: ev.theologie@uni-tuebingen.de


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Language / literature, Philosophy / ethics, Religion
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Personnel announcements
    German


     

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