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11/22/1999 10:11

Die neue Armut in Mittel- und Osteuropa

Dr. Michael Kopsidis Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa

    Weltweit leben nach Schätzungen der Welternährungsorganisation (FAO) derzeit ca. 1,3 Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze, d. h. sie müssen mit 1 Dollar oder weniger pro Tag auskommen. Setzt man diese Definition nur geringfügig höher an, dann ist bereits mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung von Armut betroffen. Davon leiden etwa 828 Millionen Menschen an Hunger oder Unterernährung. Dies ist meist direkt an ökonomische Armut im Sinne von Realeinkommen unterhalb des Existenzminimums gekoppelt. Armut wird damit zunächst als Einkommensarmut gemessen und stellt häufig eine Art "Demarkationslinie" innerhalb der Gesellschaft dar, die diese teilt und zumindest den offensichtlich von Armut Betroffenen oft die Entwicklungschancen innerhalb der Gesellschaft verbaut.
    Auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) sowie in den Transformationsländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist die derzeitige Ernährungssituation kritisch. Armut und Unterernährung waren zumindest bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme in MOE weitgehend unbekannt und galten als Phänomene der Dritten Welt. Prinzipiell sind auch heute noch hinreichend Potentiale in der Land- und Ernährungswirtschaft MOE's vorhanden, um die Bevölkerung ausreichend zu versorgen. Dennoch tritt Armut verstärkt und in zunehmendem Maße in einigen Transformationsländern auf. Dies ist primär auf den transformationsbedingten Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme in diesen Ländern zurückzuführen, die das zuvor relativ gute soziale Netzwerk nicht über den Systemwandel hinaus konservieren konnten. In Mittel- und Osteuropa lebt inzwischen ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Als Indiz für die problematische Einkommenssituation kann der Anstieg der Subsistenzproduktion interpretiert werden, die allerdings zumindest die Elementarversorgung mit Nahrungsmitteln weitgehend sicherstellt.
    Zur Verringerung der Realeinkommen in MOE, die zur Realisierung des Existenzminimums verfügbar sind, kommt noch die Reduzierung öffentlicher Güter und Transferleistungen. Die Transformation brachte erhebliche Einkommensdisparitäten mit sich, was soziale Spannungen und Armut auslöste. Die Dynamik der Lohnentwicklung hielt mit derjenigen der Preise nicht Schritt. Besonders betroffen sind Personen, die auf staatliche Transferzahlungen (Rentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, kinderreiche Familien, Kranke und Behinderte, usw.) bzw. Standardeinkommen angewiesen sind, sowie die Bevölkerung im ländlichen Raum; denn die weggefallenen sozio-ökonomischen Leistungen der landwirtschaftlichen Großbetriebe und deren wirtschaftliche Misere führten zu überproportionalen Einkommenseinbußen, hoher Arbeitslosigkeit, Schwächung der ruralen Infrastruktur und damit zu Migrationsdruck, Überalterung und Entvölkerung des ländlichen Raumes.
    Zehn Jahre nach der politischen Wende ist es dringend erforderlich, die Ernährungssituation der Menschen in Mittel- und Osteuropa in ihrer Bedeutung für die weiteren Transformationsprozesse in diesen Ländern zu analysieren. Es ist zu fragen, wie eine längerfristig wirkende Konsolidierung der Land- und Ernährungswirtschaft zu erreichen ist, die über den weiteren Erfolg der Transformationsprozesse insbesondere im ländlichen Raum entscheiden wird.
    Zur Bekämpfung der Armut müßte flächendeckend eine ökonomische Konsolidierung erfolgen. Um dies zu erreichen, sind Investitionen, Reorganisation der Wirtschaftsbereiche hin zu einer marktwirtschaftlich orientierten Ordnung mit institutionellen Anpassungen sowie weitreichender Privatisierung erforderlich. Als direkte Folge dieser Maßnahmen sind Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen, Ausweitungen des Produktionspotentials und der Anzahl der Arbeitsplätze zu erwarten. In der Summe sollten diese Effekte dazu führen, daß die Land- und Ernährungswirtschaft der MOEL international wettbewerbsfähiger wird und die sozio-ökonomische Situation sich - vor allem im ländlichen Raum - entspannt.
    Voraussetzung für die Realisierung einer solchen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im ländlichen Raum sind dabei einerseits eine zügige und konsequente Reformpolitik und andererseits ausländische Unterstützung beim Transformationsprozeß. Dies kann beispielsweise über Direktinvestitionen, infrastrukturelle Hilfe und die Öffnung der westlichen Märkte für mittel- und osteuropäische Produkte geschehen. Um eine Erhöhung der Exporte zu ermöglichen sind die Transformationsstaaten jedoch zunächst beispielsweise gezwungen, die Produktqualitäten zu verbessern und diese auf stabilem Niveau zu garantieren, denn die Anpassung an internationale Qualitätsstandard und vertraglich fixierbare Produkteigenschaften sind elementare Voraussetzung für die wirtschaftliche Integration. Dies zeigt auch, wie essentiell insgesamt die Installation und Funktion geeigneter institutioneller Rahmenbedingungen und deren kontinuierliche Weiterentwicklung für die MOEL sind.
    Die Verringerung der Armut in MOE steht im direkten Zusammenhang mit dem Erfolg der Systemtransformation und der Realisierung eines nachhaltigen ökonomischen Wachstumsprozesses. Im Einklang mit der Reorganisation der Volkswirtschaft ist auch sozio-ökonomische Progression zu erwarten, die zumindest die Maschen der sozialen Sicherungssysteme wieder enger knüpfen und verbreitete Armut langfristig ausschließen sollte. Die Konsolidierung der Land- und Ernährungswirtschaft ist dabei die notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung der Erholung der Wirtschaftskraft im ländlichen Raum und somit die Voraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung der Armut unter der Landbevölkerung. Die Politik muß sich der Aufgabe stellen, entsprechende Strategien zu entwickeln und umzusetzen. Dabei sind die Reformer der MOEL genauso in der Pflicht, wie ihre westlichen Politikerkollegen.
    Die agrarökonomischen Forschungseinrichtungen haben sich in diesem Rahmen der Verantwortung gestellt, den Transformationsländern Unterstützung zu bieten. Mit dem Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO) und der Landwirtschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität bildet Halle ein wichtiges Zentrum für die Analyse der Agrarsektoren Mittel- und Osteuropas. Das IAMO und die Fakultät begleiten wissenschaftlich den Transformationsprozeß in der Land- und Ernährungswirtschaft und leiten aus dessen Analyse politische Handlungsempfehlungen für die MOEL ab.
    Die gemeinsam mit dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und der FAO organisierte Veranstaltung zum Welternährungstag in Halle hat über 400 TeilnehmerInnen die Möglichkeit gegeben, sich über Umfang, Hintergründe und Lösungsansätze der angespannten Ernährungs- und Einkommenssituation in den MOEL zu informieren bzw. in der Diskussion mit Experten auszutauschen.


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    Criteria of this press release:
    Economics / business administration, Law, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Politics, Social studies, Zoology / agricultural and forest sciences
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Scientific conferences
    German


     

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