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01/24/2000 00:00

Wenn ein Forscher die Blickrichtung ändert

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Geschichte

    In der russischen Geschichte im Zarenreich und der Sowjetunion von 1870 bis 1941 ging es um die Erschließung der Länder an der Peripherie und die Unterwerfung der Völker. Der Tübinger Historiker Dr. Jörg Baberowski geht jedoch davon aus, dass die Geschichte des Vielvölkerreiches außerdem durch die Versuche der Zivilisierung der Menschen durch die Obrigkeit erklärt werden muss. Seine Forschungen setzen daher an den Rändern des Imperiums an.


    Wenn ein Forscher die Blickrichtung ändert

    Tübinger Historiker sieht russische Geschichte als Versuch der kulturellen Missionierung

    Die Geschichte des früheren russischen Zarenreiches und der Sowjetunion wurde häufig aus dem Blickwinkel der Machtzentren in Petersburg und Moskau erforscht. Von dort aus wollten die jeweiligen Machthaber die Regionen am Rande des Imperiums wie Aserbaidschan oder Kazachstan erobern und unterwerfen. Für seine Forschungen hat der Tübinger Historiker Dr. Jörg Baberowski vom Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde die Blickrichtung geändert und die geschichtliche Entwicklung von 1870 bis 1941 von der Peripherie aus betrachtet. Die mühsame Arbeit in den Archiven Russlands und Aserbaidschans brachte Baberowski zu der Feststellung, dass die russische Geschichte auch als dauernder Versuch gesehen werden muss, die Völker am Rand des Imperiums kulturell zu missionieren.

    Lange vor dem 19. Jahrhundert strebten die russischen Machthaber an, die europäische Zivilisation auch in das Zarenreich zu bringen. Die traditionellen Lebensweisen etwa der kazachischen Nomaden und die Gebräuche des Islams wurden dabei als rückständig oder gar barbarisch angeprangert. Bei diesen Versuchen von der Mitte des 19. Jahrhunderts an gelang es nicht, diese Ziele zu denen der Völker am Rande des Reiches zu machen. Die Ausgrenzung der traditionell lebenden Menschen und die Überfremdung ihrer Kultur führten vielmehr zu Ablehnung und politischer Instabilität in den Regionen. Mangels eigener Führer hatten die russischen Machthaber vielfach Einheimische in den russischen Adel erhoben. Dennoch gelang es ihnen nicht, die fremden Welten der Nomaden und Muslime zu beherrschen.

    In der Revolution 1917 siegten die Bolschewiki, die einen kommunistischen Staat aufbauen wollten, über die Eliten des Zarenreiches. Baberowski sieht diese Entwicklung aber auch als Sieg der kulturell diskriminierten Völker gegen die zivilisatorische Unterwerfung. Denn die Bolschewiki hatten am Rand des Reiches auch viele Einheimische auf ihrer Seite. Die Bolschewiki förderten zunächst die Nationalitätenvielfalt. Aus Bauerndialekten wurden Schriftsprachen, damit die Ziele des Regimes überhaupt von allen Menschen verstanden werden konnten. Außerdem sollten dabei die Lebensstile als Voraussetzung für den Kommunismus angeglichen werden. In vielen Regionen wie Georgien, Armenien und Aserbaidschan wurden die Parteiapparate sogar bevorzugt mit Einheimischen besetzt. Für die Kommunisten war der Erhalt kultureller Eigenheiten jedoch nur Mittel zum Zweck.

    Als das Regime unter Stalin Ende der 20er Jahre feststellen musste, dass sich der Kommunismus an der Peripherie des Imperiums nur oberflächlich durchgesetzt hatte, wurde die 1917 unterbrochene, zivilisatorische Mission mit menschenverachtender Gewalt wieder aufgenommen. Eine Folge war die systematische Vernichtung zahlreicher Menschen in den stalinistischen Terrorwellen, deren Höhepunkt 1937/38 erreicht wurde. Erst 1953, als in der Sowjetunion die verschiedenen Nationalitäten wieder gemäß ihrer Kultur leben konnten, gewann das Imperium erneut an politischer Stabilität. Im historischen Rückblick, so Baberowski, lässt sich die Entwicklung des russischen Imperiums nur erklären, wenn die verschiedenen Versuche der kulturellen Missionierung berücksichtigt werden. (3197 Zeichen)

    Kulturelle Unterwerfung im Vielvölkerreich

    In der russischen Geschichte fehlt der Blick von der Peripherie ins Zentrum

    Bis zu ihrem Ende 1991 wirkte die Sowjetunion von Deutschland aus häufig wie ein riesiger Block, ein großer, einheitlicher Fleck auf der Landkarte. Der Zerfall in Einzelrepubliken machte zwar deutlicher, dass sich in der Zeit der kommunistischen Großmacht eine Völkervielfalt erhalten hatte. Doch trotzdem wurde die ganze große Region häufig mit Russland gleichgesetzt. Auch Historiker, meint Dr. Jörg Baberowski vom Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen, betrachten die Geschichte des Zarenreiches und der Sowjetunion häufig zu stark vom Zentrum in Petersburg beziehungsweise Moskau aus. Baberowskis Forschungen begannen daher an der Peripherie, zum Beispiel in den Archiven der Kaukasusrepublik Aserbaidschan.

    Bereits unter dem Zar Peter I. im 18. Jahrhundert galt die nicht-europäische Kultur als barbarisch. Dazu zählten nomadische Lebensweisen, die Vielweiberei und auch das Essen von rohem Fleisch. Als fortschrittlich galten die sesshaften, monogamen Christen, die sich einen gewissen Wohlstand erarbeiteten. Dennoch kam die zarische Regierung nicht umhin, dem lokalen Adel der unterworfenen Völker wie etwa den georgischen Adligen und muslimischen Bejs Privilegien zuzugestehen, um ihre Ziele auch in der Bevölkerung durchsetzen zu können. Deswegen betrachteten Ende des 19. Jahrhunderts immerhin knapp die Hälfte der Adligen im Zarenreich Russisch nicht als ihre Muttersprache. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die kulturelle Missionierung der Völker an der Peripherie wie den Kazachen und den Muslimen des Kaukasus fort. Als modern galt die westeuropäische Kultur, bei der das Recht vereinheitlicht wurde und vom Staat ausging, eine Bürokratie und ein stehendes Heer aufgebaut wurden. Außerdem entwickelte sich ein staatliches Bildungssystem. "In Europa war die Angleichung der Lebensstile weitgehend gelungen, das alte Europa war räumlich eng, das Behördennetz gut ausgebaut und die religiösen Unterschiede nicht so groß", erklärt Baberowski. Die Menschen aus dem niederen Volk machten sich die politisch erwünschten Ziele nur dann zu eigen, wenn sie dadurch aufsteigen konnten. In Russland ging der Prozess der europäischen Zivilisierung vom Staat und seinen Beamten aus. Diese Vorstellungen widersprachen dort allen Traditionen, nicht nur des niederen Volkes, sondern auch der Elite. Sie stießen daher in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den russischen Bauerndörfern genauso auf Ablehnung wie bei den kazachischen Nomaden und kaukasischen Bauern.

    Im zentralasiatischen Kazachstan und in Aserbaidschan gehörten die Menschen dem Islam an und waren in Clans organisiert. "Die Herrscher versuchten, den Islam und die nomadische Lebensweise als rückständig oder barbarisch darzustellen, als etwas, das überwunden werden müsse", erklärt der Historiker die Vorgehensweise des Staates. Den Eliten des Zarenreiches gelang es jedoch nicht, das Fremde wirklich zu beherrschen. Die Vorstellungen der europäischen Zivilisation waren dem Alltag der Menschen zu fern. In der Folge brachen zum Beispiel 1905 in der multiethnischen Industriestadt Baku Konflikte zwischen diskriminierten Muslimen und armenischen Christen aus. Im Kaukasus schlossen sich Räuberbanden zusammen, deren Mitglieder wegen der Ausübung der traditionellen Blutrache zu Gesetzlosen erklärt worden waren. Die Regionen wurden durch Zivilisierungsversuche politisch destabilisiert.

    In der russischen Oktoberrevolution 1917 siegten die Bolschewiki, die aus dem russischen Reich einen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat machen wollten, über die weiße Armee , die für das alte Russland kämpfte. Aus dem Blickwinkel der Zivilisierungsversuche sieht Baberowski die Revolution aber auch als eine Auseinandersetzung zwischen fremden Welten, die zugunsten der traditionellen Lebensweisen der Völker am Rand des Reiches entschieden wurde. "Die Bolschewiki gewannen paradoxerweise auch den lokalen muslimischen Adel und die Bejs, den einheimischen Landadel, für sich, weil diese im Zarenreich von den Christen an den Rand gedrängt wurden", erklärt der Historiker. Obwohl es der kommunistischen Idee widersprach, den verschiedenen Nationalitäten im Vielvölkerreich wieder Raum zu geben, brauchten die Bolschewiki doch Menschen, die in der jeweiligen Sprache und Kultur den Kommunismus weiter vermitteln konnten.

    Die Bolschewiki wollten Nationalstaaten erst schaffen, um sie dann wieder zu überwinden. Die Partei sorgte dafür, dass die Menschen in ihren lokalen Sprachen Lesen und Schreiben lernten. Orientalisten und Sprachwissenschaftler entwarfen Grammatiken und Alphabete und formten aus Bauerndialekten Literatursprachen. Die Bolschewiki konnten ihre Ziele nun vermitteln, waren aber auch von den Einheimischen abhängig. Ab 1923 bis zum Beginn der 30er Jahre wurden daher zum Beispiel in Georgien, Armenien und dem ländlichen Aserbaidschan, die Partei- und Staatsapparate nahezu vollständig mit Einheimischen besetzt.

    Diese Regionen kamen damit in eine Phase der Stabilisierung. Doch erkannten Stalin und die kommunistischen Machthaber in Moskau schließlich, dass ihre Politik an den Rändern des Imperiums in die falsche Richtung ging: Zwar waren die Einheimischen vielerorts Kommunisten, waren aber gleichzeitig mit zwei Frauen verheiratet und gingen in die Moschee. Die kommunistische Idee konnte sich unter diesen Bedingungen nicht durchsetzen. "Daher nahmen die Machthaber die 1917 unterbrochene Zivilisierungskampagne ab 1928 wieder auf. Nur waren sie ungleich gewalttätiger als die Regierenden im Zarenreich", berichtet Baberowski. Menschen, die noch traditionelle Lebensweisen pflegten und den Vorstellungen des Regimes von Modernität nicht entsprachen, hießen fortan "sozial fremde Elemente". Die russischen Bauern wurden in terroristischen Kampagnen kollektiviert. An der Peripherie, im sowjetischen Orient, überfiel das Regime die Bevölkerung in einem regelrechten Krieg. Einflussreiche Clanführer und islamische Geistliche wurden erschossen, Nomaden sesshaft gemacht. Islamische Sitten wie das Tragen des Tschadors bei den Frauen wurden bekämpft, orientalische Dichtkunst und Musik verachtet. Das Regime kriminalisierte das Gewohnheitsrecht der Völker und die islamische Scharia.

    "Im Juli 1937 ergingen detaillierte Instruktionen des Politbüros an die nachgeordneten Parteiorgane, die Feinde in großer Zahl zu vernichten. Der stalinistische Terror erreichte 1937/38 seinen Gipfel", beschreibt Baberowski diese menschenverachtende politische Phase. Erst ab 1953 wurden in der Sowjetunion die unterschiedlichen Kulturen wieder nebeneinander geduldet und das Imperium erlangte neue Stabilität. "Dieses pragmatische Konzept garantierte allein den Zusammenhalt des Vielvölkerreiches. Die 'aufgeklärten' Reformen des 19. Jahrhunderts und die rücksichtslosen bolschewistischen Modernisierungskampagnen der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts haben dagegen bei den Nationalitäten an der Peripherie des Imperiums die Abwehrreflexe aktiviert. Die Revolution von 1917 und das Grauen des Stalinismus sind daher nur mit Blick auf die Peripherie verstehbar", fasst der Historiker seine Forschungen zusammen.
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    Nähere Informationen:

    Dr. Jörg Baberowski
    Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde
    Wilhelmstraße 36 (Hegelbau)
    72074 Tübingen
    Tel. 0 70 71/2 97 23 88 oder 0 70 71/2 37 04
    Fax 0 70 71/29 23 91

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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