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02/21/2000 13:23

Zwischen Kreativität und Gewalt

Dr. Werner Boder Stabsreferat Kommunikation
VolkswagenStiftung

    Forschungsergebnisse zu jugendlichen Gruppen

    Die "Halbstarken" in den 50er Jahren, die Studentenbewegung in den 60ern, K-Gruppen in den 70ern, die Hausbesetzer in den 80er Jahren, rechte Skinheads im letzten Jahrzehnt: Die jugendlichen Gruppen, die anders sind als die meisten, kommen und gehen, und wir wissen nicht genau, woher und warum? Aber dass sie gerade im letzten Jahrzehnt immer ge-walttätiger gegenüber "Fremden" agieren, das müssen wir uns nur zu oft in den Medien vor Augen führen lassen.

    Die Gesellschaft ist rat- und hilflos. Vielfach ertönt der Ruf nach einer verstärkten "Werterziehung" in Familie und Schule, ohne dass wir wissen, ob es vielleicht gerade die alten Werte sind, die Widerstand und Gewalt provozieren. Oder nach einer Verschärfung der strafrechtlichen Maßnahmen, ohne dass wir wissen, was wir mit Kindern in Strafvollzugseinrichtungen anfangen sollen und ob Strafe überhaupt eine Abschreckung bewirkt.

    Der Beitrag, den die Wissenschaften in dieser Situation leisten können, ist unter anderem, zunächst einmal herauszufinden, warum Jugendliche sich zu Gruppen mit spezifischem Verhalten zusammenschließen. Dabei dürfen nicht die allgemeinen Bedingungen der jugendlichen Existenz in unserer pluralistischen Gesellschaft vernachlässigt werden, mit all den Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten für die jungen Menschen, sich ihre Sinnzusammenhänge selbst zu definieren. Nicht alle jugendlichen Gruppen sind ja gewaltbereit, manche entwickeln vielfältige Formen neuen kreativen Verhaltens.

    Dies alles ist empirisch zu untersuchen. So sah es auch die VolkswagenStiftung, die seit Jahren in ihren Förderinitiativen Forschungsvorhaben über "das Fremde und das Eigene" unterstützt. Eine der geförderten Untersuchungen, für die die Stiftung insgesamt 777.000 DM zur Verfügung gestellt hat, trägt den Titel "Aggressive Jugendgruppen im Spannungsfeld des Eigenen und des Fremden - Bedingungen der Entstehung von Gruppenwirklichkeit und Abgrenzungspraktiken - eine ethnografische Analyse". Sie wurde von Professor Dr. Roland Eckert geleitet, und ihre Ergebnisse sind soeben veröffentlicht worden.*

    Die Trierer Wissenschaftler - Roland Eckert ist Professor für Allgemeine Soziologie, Bildungs- und Jugendsoziologie, Christa Reis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e. V., Thomas A. Wetzstein Wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Soziologie, alle an der Universität Trier - haben Breakbeater und Pfadfinder, Techno-Gruppen und Graffiti-Schreiber, Wagendorf-Bewohner und obdachlose Punks, insgesamt 47 unterschiedliche Gruppen in den letzten Jahren mit qualitativen Methoden wie Beobachtung und Leitfadeninterviews, Gruppendiskussion und Expertengesprächen untersucht; 20 von ihnen sind in dem Band ausführlich portraitiert.

    Ein Befund der Untersuchung ist, dass Gewalt den Jugendlichen nicht zu-fällig "über den Weg läuft", sondern für einen Gefühlszustand steht, der gezielt aufgesucht wird, der Aufregung, Abenteuer, Risiko und insgesamt Lustgewinn verspricht. Andere Faktoren können verstärkend hinzukommen, etwa die Herkunft aus problematischen Familienverhältnissen, Misserfolge im Bildungssystem oder im Berufsfeld, aber auch der Ausschluss von den "Erlebnisfreuden" der Konsumgesellschaft oder schlicht der Mangel an geeigneten Treffpunkten. Die Jugendlichen suchen dann auf eigene Faust nach einer positiven sozialen Identität - und das macht die Unterscheidung und Absetzung von anderen Gruppen erforderlich.

    Einige Gruppen beruhen auf der ethnischen Zugehörigkeit, was wiederum eine Ablehnung anderer ethnischer Gruppen mit sich bringt. Wenn solche Unterschiede sich zu weltanschaulichen Haltungen aufladen, resultiert allzu oft Gewalt daraus: Der "Feind" muss aktiv bekämpft werden - wenn man sich stark genug fühlt, auf seinem eigenen Territorium. Revierverletzungen dieser Art führen fast immer zu Gewalt.

    Begleitet wird diese ganze Entwicklung von der Eigendynamik von Gruppenprozessen. Je stärker das "Wir-Gefühl" ist, je drastischer das "Eigene" inszeniert wird, umso mehr gehen die Außenbeziehungen zurück. Dies wiederum kann das Erleben des "Eigenen" stärken. So kommt es zu einer Abgrenzungsspirale, bis die Gruppe zerbricht oder sich auflöst, weil der Druck der Außenwelt, etwa durch Strafverfolgung, zu groß wird, oder weil die Mitglieder sie irgendwann zugunsten von Berufstätigkeit oder Familiengründung verlassen können. Bis dahin kann die Gruppenzugehörigkeit aber schon einen hohen Preis in Form von Vorstrafen, Sucht oder gesundheitlichem Ruin gefordert haben. Für einen Teil der Jugendlichen gibt es kaum noch eine Chance, den Weg in eine bürgerliche Existenz zu gehen.

    Was also ist zu tun? Appelle an die Wiederherstellung von Wert- und Rechtsbewusstsein helfen nicht, weil sie die Problemgruppen gar nicht erreichen und weil sie keine Lösungsstrategien anbieten. Zu den Erkenntnissen, die aus der Untersuchung gezogen werden können, gehört allerdings auch, dass die meisten der befragten Jugendlichen eine durchaus konventionelle Lebensplanung und Wertorientierung haben. Eine wirkliche Besserung ist daher zu erwarten, wenn die Zahl legaler Karrierewege drastisch erhöht wird. Zunächst aber muss man die tatsächlichen Probleme, die Fähigkeit zur Kreativität auf der einen und die Verlockung zur Gewalt auf der anderen Seite, bei den unterschiedlichen Gruppen genau kennen. Dazu bietet die Studie, die viel konkretes Material in einer gut lesbaren Sprache enthält, die Möglichkeit: für Politiker, Stadtverwaltungen, Jugendämter, Lehrer und Eltern - und eigentlich für alle; denn das Thema geht uns alle an.

    Der Ort, an dem Kinder und Jugendliche zunächst einmal systematisch in die bestehenden Ideale ihrer Gesellschaft eingeführt werden, ist die Schu-le. Sie ist der entscheidende Ort, an dem vor allem Kinder von emigrierten Eltern mit den Normen und Werten des Landes konfrontiert werden, in das ihre Eltern eingewandert sind. In der Auseinandersetzung mit diesen Idealen prägt sich ihre eigene (Minderheits-) Identität aus.

    Dies geschieht in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich und es ist sehr aufschlussreich, dies zu studieren. Die VolkswagenStiftung hat dazu ein weiteres großes Projekt mit 921.000 DM finanziert, in dem unter Leitung von Professor Dr. Werner Schiffauer (Europa-Universität Viadrina, Frank-furt/Oder, Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie) gemeinsam mit Kollegen in Amsterdam, Oxford und Paris am Beispiel der türkischen Einwanderer der zweiten Generation untersucht wurde, wie dieser Prozess der Minderheitskonstitution in Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland abläuft. Auch die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in Kürze als Buch vorliegen. Der Forschungsbericht kann zum Selbstkostenpreis von 25,- DM bereits jetzt bezogen werden**.

    Kontakte: Prof. Dr. Roland Eckert, Tel.: 0651/201-2704/05
    Prof. Dr. Werner Schiffauer, Tel.: 0335/5534-646
    VolkswagenStiftung: Dr. Hiltgund Jehle, Tel.: 0511/8381-276
    __________
    Literatur:
    *Roland Eckert/Christa Reis/Thomas A. Wetzstein, "Ich will halt anders sein wie die anderen", Abgrenzung, Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher, Unter Mitarbeit von Peter Bangert und mit einem Beitrag von Linda Steinmetz, Leske + Budrich, Opladen 2000, 447 Seiten, Kart. 48,- DM
    ISBN 3-8100-2247-0

    **Forschungsbericht des Lehrstuhls für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie, Europa-Universität Viadrina, Große Scharrnstraße 59, 15230 Frankfurt/Oder


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    Criteria of this press release:
    Social studies
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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